Süddeutsche Zeitung

Typisierungsaktion in Aschheim:"Wenn das unsere Tochter wäre"

4280 Freiwillige lassen sich in Aschheim in die Knochenmarkspenderdatei eintragen. Dass darunter ein passender Spender für die zwölfjährige Rinah ist, ist unwahrscheinlich. Doch dank solcher Typisierungsaktionen hat das an Blutkrebs erkrankte Mädchen gute Heilungschancen.

Von Cathrin Schmiegel, Aschheim

Einfach jeder, der am Sonntag in Aschheim auf die Straße geht, scheint auf dem Weg in den Feststadl zu sein. Lotsen in Warnwesten weisen Autokolonnen den Weg, dirigieren die Menschenmenge zur richtigen Tür. Vor dem Haupteingang stehen die Leute bis zur Straße und warten darauf, dass die Türen sich öffnen. Um 10 Uhr beginnt die große Typisierungsaktion, die die gemeinnützige Deutsche Knochenmarkspenderdatei Gesellschaft (DKMS) in dem Gebäude für die zwölf Jahre alte Rinah veranstaltet. Es soll nur eine Stunde dauern, da haben schon die ersten 1000 Menschen ihr Blut gespendet, um sich als Knochenmarkspender in die Datei aufnehmen zu lassen.

Die Geschichte der Schülerin aus Aschheim ging in den letzten Wochen durch ganz Deutschland, verbreitete sich über Presse, soziale Netzwerke und Mundpropaganda wie ein Lauffeuer. Vor zwei Monaten erst bekam das Mädchen die Diagnose gestellt: Blutkrebs. Bei dieser Krankheit vermehren sich entartete weiße Blutkörperchen unkontrolliert. Rinah ist mehrmals in der Woche auf Blutkonserven angewiesen. Dem Mädchen geht es schlecht: Die Familie berichtet von Halsschmerzen und Fieber.

Um gesund zu werden, braucht Rinah dringend einen Knochenmarkspender, bei dem zehn HLA-Merkmale mit ihren eigenen übereinstimmen. Das Kürzel HLA steht für Humane Leukozyten-Antigene, also Strukturen auf den Oberflächen der Körperzellen, anhand derer das Immunsystem zwischen eigenem und fremden Gewebe unterscheiden kann.

Rinah kann nicht da sein. Sie muss Menschenansammlungen meiden

Rinah selbst ist bei der Typisierungsaktion nicht dabei. "Sie muss große Menschenansammlungen meiden", sagt ihre Mutter Patricia S. Die Frau steht inmitten der großen Halle, immer wieder klopfen ihr Menschen auf die Schulter, wünschen der Familie Glück. "Es ist unglaublich surreal, dass so viele da sind", sagt die Frau und lächelt. "Wenn man so etwas auf die Beine stellt, hat man das Gefühl, dass man aktiv etwas gegen die Krankheit tun kann". Sie lässt ihren Blick schweifen: über den Saal, in dem Hunderte Menschen stehen. Um sich registrieren zu lassen, durchlaufen sie mehrere Stationen.

Im Eingangsbereich hängen Bilder aus. Ein paar Künstler verkaufen ihre Werke gegen Spenden von je 40 Euro. Auch Anja Fachmann hat ihre Herz-Bilder aus Acryl ausgestellt. "Eigentlich verkaufe ich meine Bilder für 300 Euro", sagt sie. Rinahs Familie kennt sie persönlich. "Unsere Kinder gingen gemeinsam zum Ballett-Unterricht", sagt sie. Dann ist sie weg, will sich selbst typisieren lassen. Sie geht den Weg, den alle gehen: von der Station zur Datenerfassung, um zu kontrollieren, ob die Menschen sich zur Knochenmarkspende eignen, zu den Tischen, an der die Daten kontrolliert werden, bis hin zu einem der 60 medizinischen Helfer, die jedem fünf Milliliter Blut abnehmen sollen.

Ein 50-Jähriger kommt als Spender nicht infrage. Er hat Diabetes

An der ersten Station starrt ein 50 Jahre alter Mann zu Boden, sein Blick ist getrübt. "Ich habe Diabetes", sagt er und wirft einen 10-Euro-Schein in eine der Spendenboxen, "als Knochenmarkspender komme ich nicht in Frage". Michael Gotzens ist 46 Jahre alt und darf sich in die Datei der DKMS aufnehmen lassen. Mit seiner Frau ist er aus Garching nach Aschheim gefahren. Seine 13 Jahre alte Tochter steht neben ihm, auch wenn sie sich wegen ihres Alters selbst nicht registrieren darf. 17 ist das Mindestalter. Gotzens kennt Rinah nicht, im Radio hat er von der Aktion erfahren. Für ihn ist die Registrierung selbstverständlich. "Wenn das unsere Tochter wäre. . .", sagt er. Den Satz muss er nicht zu Ende sprechen, in dem Raum denken wohl viele ähnlich.

"Die persönliche Anteilnahme ist hier gigantisch", sagt Isabella Bruhn. "Ich habe heute schon oft Menschen gesehen, die mit den Tränen gekämpft haben." Viele von ihnen würden Rinah nicht einmal kennen, sagt sie. Sie fragt die Menschen explizit danach. Bruhn selbst kennt Rinah gut. Sie ist eine der beiden Patentanten des Mädchens. Die andere ist Martina Henselmann. In ihrer Mappe hat sie alle Helfer in Tabellen eingetragen, jedem wurde Zeit und Ort zugewiesen. 250 Helfer haben sich gemeldet, an die 80 Prozent von ihnen, sagt Henselmann, würden Rinah oder die Familie kennen.

Eine Frau schaut weg, als ihr Blut abgenommen wird. Sie kann kein Blut sehen

An einem Tisch, der die Nummer B33 trägt, sitzt Henselmanns Ehemann. Peter Henselmann ist Kinderarzt, er hat das medizinische Personal für die Aktion zusammengetrommelt. 50 von ihnen sind jeweils zur gleichen Zeit beschäftigt. Henselmann hebt die Hand, ein Zeichen: Sein Tisch ist frei. Eine junge Frau setzt sich. Den Blick hat die Frau abgewendet. "Die Blutabnahme stört mich nicht", sagt sie "nur hinsehen kann ich nicht." Ihr Gesicht ist weiß, ohnmächtig aber wird sie nicht werden. Das Prozedere selbst dauert nur drei bis vier Minuten, eine kurze Erholungszeit eingerechnet. "Jeder medizinische Helfer schafft so circa 15 bis 20 Menschen in der Stunde", sagt Henselmann. Es ist ein ordentliches Ergebnis: 750 bis 1000 Menschen könnten die Helfer so im 60-Minuten-Takt Blut entnehmen.

Um 15 Uhr schließlich hat der Letzte sein Blut gespendet. 4280 sind es an diesem Tag insgesamt gewesen. Yvonne Renz von der DKMS ist zufrieden, trotzdem weiß sie: "Es ist sehr unwahrscheinlich, hier einen Knochenmarkspender für Rinah zu finden." Bei der Registrierung an diesem Tag gehe es vielmehr darum, die Zahl der potenziellen Knochenmarkspender in der Datei zu erhöhen. 5,5 Millionen sind schon gelistet.

Auch online kann man sich auf www.dkms.de registrieren lassen. Die DKMS verschickt auf Anfrage Wattestäbchen, mit denen sich jeder selbst Speichelproben entnehmen und als Stammzellenspender in die Datei aufnehmen lassen kann. Rund 200 Menschen hätten das in den letzten Wochen im engen Umkreis von Aschheim gemacht. Die Geschichte der zwölf Jahre alten Rinah dürfte einen großen Teil dazu beigetragen haben. Mit der Typisierungsaktion in Aschheim konnte die DKMS das Augenmerk auf das Krankheitsbild lenken und so vielleicht auch einen Spender für Rinah finden. "Die Wahrscheinlichkeit, weltweit einen Spender für das Mädchen zu finden", sagt Renz, "liegt durch Veranstaltungen wie diese bei 80 Prozent".

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SZ vom 27.07.2015/wkr
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