Süddeutsche Zeitung

Aschheim:Der unerfüllte Traum vom Bootfahren

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Vor 100 Jahren begannen die Arbeiten am Mittleren Isarkanal. In einem Film hat der Ortschronist Peter Stilling die Entstehung dieses "Jahrhundertbauwerks" nachgezeichnet.

Von Sabine Wejsada

Damit würde sich für Peter Stilling schon ein Traum erfüllen: Einmal mit dem Boot auf dem Mittleren Isarkanal zu fahren - vom Start am Stauwehr in Oberföhring bis weit hinaus zu den Moosburger und Echinger Stauseen südwestlich von Landshut. Die mehr als 60 Kilometer lange Wasserstraße entlang zu schippern, das könnte sich der Aschheimer gut vorstellen. Seit mehr als drei Jahren beschäftigt sich Stilling, der in seinem Heimatort und darüber hinaus als versierter Hobby-Historiker bekannt ist, intensiv mit dem nach seinen Worten "Jahrhundertbauwerk in Bayern".

Der pensionierte Ingenieur ist so begeistert, dass er sogar einen gut einstündigen Film über den Mittleren Isarkanal und seine Umgebung gemacht hat. Noch heuer soll dieser Streifen im Kulturellen Gebäude in Aschheim gezeigt werden, wie Stilling hofft. Wenn es Corona zulässt, dass das Bürgerhaus aufsperrt und Veranstaltungen mit Besuchern möglich sind. Denn 2020 ist ein ganz besonderes Datum: Da jährt sich die Grundsteinlegung für den Isarkanal zum hundertsten Mal.

Der Kanal zweigt am Stauwehr Oberföhring unweit der nördlichen Münchner Stadtgrenze von der Isar ab, verläuft dann ein paar Kilometer parallel zum Fluss und biegt nördlich von Unterföhring in Richtung Osten ab. Während ein Teil des Wassers nach einigen Kilometern in den Ismaninger - für Stilling natürlich den Aschheimer - Speichersee abgezweigt wird, verläuft der Isarkanal parallel zu dem großen künstlich erschaffenen Gewässer weiter. Bei Neufinsing im Kreis Erding vereint sich das abfließende Wasser des Speichersees über ein Wasserkraftwerk mit dem Isarkanal und fließt weiter Richtung Norden, im Westen von Erding vorbei. Auf Höhe des Flughafens biegt der Kanal nach Nordosten ab und trifft dann bei Moosburg im Landkreis Freising auf die Isar. Ab da verläuft der Kanal parallel zum Fluss, in den er schließlich wenige Kilometer südwestlich von Landshut mündet. In diesem Bereich liegen zwei weitere Gewässer, der Moosburger und der Echinger Speichersee.

Stilling sitzt an diesem sonnigen Nachmittag auf seiner Terrasse und schwelgt. Der Isarkanal, so der Eindruck, ist mittlerweile ein guter Freund geworden. Und alles was mit dem künstlich geschaffenen Wasserlauf zu tun hat, gehört irgendwie schon immer zum Leben des 74-Jährigen und dessen Familie. Zusammen mit seiner Frau Anneliese war er in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder unterwegs - am Abfanggraben, am Teichgut, am Speichersee und natürlich am Mittleren Isarkanal. Schon als Stilling ein Bub war, hat ihn das alles fasziniert, wie er gut gelaunt erzählt. So radelte er im Sommer nach der Schule zusammen mit ein paar Freunden zum Teichgut, natürlich heimlich, die Eltern sollten das nicht wissen. Sie schnappten sich die Seile, mit denen die Fischerkähne am Ufer festgezurrt waren, banden sie los und sprangen auf die Boote. Alles verboten, aber unglaublich spannend.

Peter Stilling hat viel Material zum Isarkanal gesammelt und lässt in einem Film die Geschichte Revue passieren.

Oskar von Miller hatte die Idee für diese Wasserstraße, die einen Höhenunterschied zwischen München und Moosburg von 88 Metern nutzen sollte, um Energie zu erzeugen in drei Kraftwerken.

Bautechnisch war es eine Mammutaufgabe. Bei den Sanierungen 2005 und 2009 mussten die Bautrupps 150 000 Quadratmeter Kunststoffplanen verlegen und verschweißen,

ehe schließlich 72 000 Kubikmeter Beton darüber kam, der mit eigens entwickelten Spezialmaschinen verbaut wurde.

Über die Geschichte des Teichguts hat Stilling bereits einen Film gemacht. Ebenso einen über das Leben in längst vergangenen Zeiten in Aschheim. Der leidenschaftliche Amateurfilmer und Ortschronist hat an einem Buch über die Höfe und öffentlichen Gebäude in der Gemeinde mitgeschrieben und verfügt über ein beachtliches Archiv von historischen Fotos, Dias und Aufnahmen. Jene Bilder, auf denen der Bau des Isarkanals und die Entstehung der Wasserkraftwerke, des Speichersees und dem Teichgut zu sehen sind, lernen in seinem neuesten Werk laufen, garniert mit Filmaufnahmen der Bayernwerke sowie Fotos und Geschichten von Aschheimer Familien. Ein besonderes Schmankerl sind alte Dias, die Stilling von der Tochter eines Fischermeisters bekam. All dies hat er digitalisiert und zusammengefügt.

Herausgekommen ist eine geschichtliche Erzählung über das "Jahrhundertbauwerk" Mittlerer Isarkanal. Die Idee zum Bau des von Menschenhand geschaffenen Wasserlaufs, um den Höhenunterschied von 88 Metern zwischen München und Moosburg für die Stromgewinnung zu nutzen, hatte Oskar von Miller. Bis heute gilt dieser als Wasserkraftpionier und ist als Begründer des Deutschen Museums unvergessen. In die Tat umgesetzt hat dieses Projekt zu Beginn der 1920er-Jahre Theodor Rümelin, der für die Mittlere Isar AG, einem Vorgänger von Eon, tätig war.

Weit mehr als 8000 Arbeiter brauchte es, um das Vorhaben zu realisieren. Und sie schufteten bis zum Umfallen, wie Stillings Werk zeigt. In den Jahren zwischen 1920 und 1924 entstanden das große Einlaufwehr bei Oberföhring und die Kraftwerke Finsing, Aufkirchen und Eitting. Der Kanal endete zunächst oberhalb der Ortschaft Berglern, von wo das Wasser über den Semptflutkanal in die Isar zurückströmte. Zum Jahresbeginn 1925 nahmen diese Anlagen die Stromlieferung auf. In einem zweiten Bauabschnitt, der von 1926 bis 1929 dauerte, wurde der Kanal bis Moosburg verlängert und bei Pfrombach eine vierte Staustufe errichtet.

Stillings Streifen widmet sich auch dem Bau des Speichersees, der als Wasserreserve für den Kanal fungieren sollte, und der Errichtung der seit dem Jahr 2000 aufgelassenen Fischteiche, die das Münchner Abwasser klärten; was sich bis dahin wegen des hohen Nährstoffeintrags zu einem Eldorado für die Karpfen entwickelte und pro anno bis zu 200 Tonnen Fisch einbrachte. Als Stilling davon bei der Privat-Vorführung in seinem Wohnzimmer erzählt, muss seine Frau Anneliese lachen. Sie erinnert sich gut daran, wie ihr Vater Franz Ruthus (CSU), der erste Bürgermeister von Aschheim, die Karpfen mit nach Hause brachte und diese dann in der Badewanne schwimmen mussten, bevor sie dann bei einer Weihnachtsfeier versteigert wurden, wie sie schildert. Ihr ist anzuhören, dass diese stummen Gäste im Haus während ihrer Kindheit nicht wirklich wohlgelitten waren. Sein Schwiegervater sei es gewesen, der sein Interesse an der Ortsgeschichte geweckt habe, sagt der Aschheimer.

Stolz ist er vor allem auf die Originalaufnahmen vom Bau des Mittleren Isarkanals und des Speichersees. Die Schwarz-Weiß-Bilder und Filmsequenzen erzählen von einer Unzahl von Handwerkern, riesigen Rohren und enormen Holzkonstruktionen, Fließbändern und diversem anderen Gerät. Sie können nur einen kleinen Eindruck davon vermitteln, wie schwer und kräftezehrend die Arbeit vor 100 Jahren gewesen sein mag. Auch der Urgroßvater der Reporterin gehörte zum Bautrupp des Isarkanals in Unterföhring, wie alte Fotografien in den Familienalben zeigen - und auch handschriftliche Arbeitsnachweise in altertümlichen Dienstheften existieren noch.

Der Kanalbau als Jobmotor für die kleine Gemeinde

Der erste Bauabschnitt des Kanals hat Unterföhring stark betroffen, weil südlich der Gemeinde das Wasser aus der Isar ausgeleitet wurde und dann entlang der westlichen Grenze in einem deutlichen Bogen im Norden um den Ort herumgeführt wurde. Die Errichtung des Kanals im Westen von Unterföhring zwischen Ort und Isar gestaltete sich als besonders schwierig - wegen des begrenzten Raumes, wie es in dem kleinen Büchlein der Gemeinde über die Ortsgeschichte nachzulesen ist. So mussten die Planer etwa darauf aufpassen, das Hochwasserprofil der Isar nicht einzuengen und gleichzeitig auf Bebauung unterhalb des Isarhochufers Rücksicht nehmen. Es brauchte große Dämme und Betonstützmauern. Den Poschinger Weiher im Westen der Kanalkurve verdankt Unterföhring dem enormen Kiesbedarf des Projekts.

Für die kleine Gemeinde mit ihren damals knapp 1000 Einwohnern sei der Kanalbau ein Jobmotor gewesen, heißt es: Zur Hochzeit der Bauarbeiten auf Höhe der Gemeinde in den Jahren 1921/22 werkelten bis zu 8100 Menschen auf der riesigen Baustelle. Viele von ihnen seien arbeits- und heimatlose Kriegsheimkehrer gewesen, die in Barackenlagern in und um München untergebracht wurden. Den Transport der Arbeiter übernahm eine Werkbahn, die längs dem Kanal vom Kufsteiner Platz in Bogenhausen bis nach Finsing verlief - die so genannte "Moosbahn". Einige ließen sich in Unterföhring nieder, und zwar in der Isarau, die durch den Kanal vor Überschwemmungen sicher war. Sie bekamen günstigen Baugrund. So entstand 1925 die Isarausiedlung; Unterföhrings Bevölkerung wuchs damit auf 1212 Einwohner.

Der von Theodor Rümelin geplante Kanal mit dem Stauwehr und den damals vier Kraftwerken hatte eine Reihe weiterer Funktionen: Der Ismaninger Speichersee wurde zum Ausgleich der unterschiedlichen Wasserstände der Isar angelegt. Mit dem tief liegenden Abfanggraben bei Johanneskirchen wurde das Grundwasser der Münchner Schotterebene im 30 000 Hektar großen Erdinger Moos abgesenkt, um neues Ackerland zu gewinnen und den Kanal in den damals noch kalten Wintern durch das wärmere Grundwasser vor Vereisung zu schützen. Mit dem Bau des Kanals eng verbunden war auch der Bau der Kläranlage Gut Großlappen von 1920 bis 1926.

Abgesehen von einem Dammbruch im Juli 1931 auf Höhe von Wartenberg und Langenpreising, wurde der Kanal erst für die umfassenden Sanierungen 2005 und 2009 entleert. Dabei handelte es sich um ein technisches Mammutprojekt. Die Bautrupps mussten 150 000 Quadratmeter Kunststoffplanen verlegen und verschweißen, ehe schließlich 72 000 Kubikmeter Beton darüber kam, der mit eigens entwickelten Spezialmaschinen verbaut wurde. Rund ein Viertel des Betons wurde unter Wasser eingebaut. Eon investierte dafür 35 Millionen Euro.

Theodor Rümelin war 1918 zum Direktor der Mittlere Isar GmbH berufen und mit der Planung des Projektes betraut worden. Seine Idee jedoch, den Mittleren Isarkanal schiffbar zu machen, wurde schnell zu den Akten gelegt. Zu aufwendig wären die erforderlichen Schleusen und Ausweichkanäle zur Umfahrung der Kraftwerke gewesen. Und auch heute sind Boote auf dem Kanal verboten. Peter Stillings Wunsch wird sich wohl nicht erfüllen.

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Quelle:
SZ vom 08.07.2020
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