Armut:Unverschuldet überschuldet

Altersarmut, 2015

Auch im reichen Landkreis München sind Menschen etwa von Altersarmut betroffen.

(Foto: Catherina Hess)

Niedrige Einkommen, hohe Mieten: Im Landkreis München können sich immer mehr Menschen trotz Erwerbstätigkeit das Leben nicht leisten. Die Zahl der Klienten bei den Beratungsstellen steigt

Von Gudrun Passarge

Den typischen Schuldner gibt's nicht", sagt Carola Schanzer. Sie ist Fachdienstleiterin der Schuldner- und Insolvenzberatung der Caritas im Landkreis München und weiß: Es kann "wirklich jeden treffen" - und das "ganz unverschuldet". Arbeitslosigkeit, Krankheit, Scheidung oder gescheiterte Selbständigkeit sind häufige Gründe dafür, dass Menschen ihre Rechnungen nicht mehr begleichen können und Schulden anhäufen. Das ist überall in Deutschland so. Was im Landkreis München anders ist: Hier ist die sogenannte Erwerbsarmut der Hauptgrund für Überschuldung.

Schanzer präzisiert das: "Jemand verdient voll, aber es ist zu wenig, um sich das Leben hier leisten zu können." Dabei gehe es nicht um teure Autos oder Hobbys, sondern um die ganz normalen Lebenshaltungskosten, vor allem um die hohen Mieten. Anlässlich der bundesweiten Aktionswoche "Weg mit den Schulden" vom 4. bis 8. Juni lenken die Schuldnerberatungsstellen im Landkreis den Blick auf dieses für den Raum München spezielle Problem.

1271 Klienten

haben die Caritas-Dienste zur Schuldner- und Insolvenzberatung im Landkreis München 2017 betreut. Das sind 4,7 Prozent mehr als im Vorjahr. Hauptgrund für die Überschuldung sind Niedrigeinkommen gefolgt von Krankheit, gescheiterter Selbständigkeit, Arbeitslosigkeit. Sucht steht an zehnter Stelle der Gründe.

Christine Streidl, Schuldnerberaterin in Ottobrunn, berichtet von so einem Fall: Eine Erzieherin musste kündigen und wegziehen aus dem Landkreis, weil sie sich nach der Trennung von ihrem Freund die Wohnung nicht mehr leisten konnte.

Es trifft viele Menschen, die in Vollzeit arbeiten

Das Problem "schwappt mittlerweile in ganz normale Bevölkerungsbereiche rein", sagt Schanzer. Es betreffe viele Branchen, vom Friseur über die Pflegekraft bis zur Verkäuferin. Menschen, die in Vollzeit arbeiten, aber nicht genug verdienen, um ihren Unterhalt zu bestreiten.

Von einem Niedrigeinkommen sprechen Fachleute, wenn jemand nur 75 Prozent des Netto-Durchschnittslohns verdient. Liegt der bei etwa 1900 Euro, dann blieben einer Person mit Niedrigeinkommen also nur 1425 Euro oder weniger. Da genüge dann oft schon die Reparatur des Autos oder eine kaputte Waschmaschine und das monatliche Budget reiche nicht mehr aus, sagt Christine Streidl.

Viele versuchten, die Löcher dann erst mal mit geliehenem Geld oder Raten zu stopfen und gerieten immer tiefer in die Schuldenspirale. Ein Teufelskreis, aus dem sie alleine nicht mehr herauskommen - mit gravierenden Folgen. "Schulden machen ganz viel mit den Menschen", sagt Schanzer.

Sie beeinträchtigten die soziale Kontakte, weil man sich den Biergartenbesuch oder das Freibad für die Kinder nicht mehr leisten könne. Die Betroffenen gerieten immer mehr in die Isolation. Hinzu komme der Druck und die Angst, etwa vor dem Gang zum Briefkasten, in dem schon wieder Mahnungen und Pfändungsankündigungen liegen. Oft würden sie gar nicht mehr geöffnet.

Die Berater unterliegen der Schweigepflicht

Schanzer und Streidl wünschen sich deswegen, dass die Menschen "so früh wie möglich" den Weg zur Schuldnerberatung finden, um beispielsweise eine Pfändungsschutzkontobescheinigung ausstellen zu können. Vier Caritas-Anlaufstellen gibt es im Landkreis, außer in Ottobrunn gibt es noch Schuldnerberatungen in Haar, Taufkirchen und Unterschleißheim.

Die elf Schuldnerberater und vier Verwaltungsfachkräfte haben im vergangenen Jahr 1271 Menschen betreut. Sie arbeiten kostenlos und unterliegen der Schweigepflicht, wie Schanzer betont. Die Religion der Betroffenen spielt keine Rolle. Außer der Beratung legen die Mitarbeiter Wert auf Prävention. Sie besuchen Schulen oder Seniorenheime, denn das Thema Altersarmut gewinnt an Brisanz.

Wie die Beratung funktioniert, schildert Christine Streidl an einem alten Fall: Ein Mann hatte schon zwei Jahre ohne Strom gelebt, bevor er sich Hilfe holte. "Im Winter stieg er in einen eiskalten Wasserbottich, und Licht hatte er auch keines", erzählt Streidl. Fast 30 000 Euro Schulden hatte er angehäuft, Grund war außer einem relativ niedrigen Einkommen auch eine kostspielige Scheidung. Die Schuldnerberaterin setzte sich mit allen Gläubigern auseinander und bot ihnen Ratenzahlung an. In diesem Fall waren es 300 Euro im Monat, die sie verteilen konnte, denn jeder hat je nach Lebensumständen eine Einkommensgrenze, die unpfändbar ist. Bei einer alleinstehenden Person liegt sie derzeit bei 1133,80 Euro. Der Mann verdiente 200 Euro darüber, 100 Euro legte er noch freiwillig drauf.

Meldet sich jemand bei der Beratungsstelle, wird die Dringlichkeit geprüft. "Wenn nötig, bekommt jemand noch am gleichen Tag, spätestens am nächsten, einen Termin", sagt Schanzer. Im Schnitt beträgt die Wartezeit neun Tage. Dann werden alle Unterlagen gesichtet, die Beraterinnen prüfen, inwieweit auch andere Stellen wie etwa die allgemeine soziale Beratung eingeschaltet werden müssen, um die Person psychisch und sozial zu stabilisieren. "Dann kommt der Kern unserer Arbeit: die Budgetberatung", sagt Streidl. Was kommt rein, was geht raus, gibt es Zuschüsse, wo lässt sich sparen? Muss etwa jeder Tag mit einem Coffee to go beginnen? Dabei ist Streidl wichtig, keine Vorschriften zu machen, "da müssen die Leute schon selbst drauf kommen". Denn nur, wenn die Betroffenen auch selbst mitmachen, hat die Beratung auch Aussicht auf Erfolg.

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