Armut:"Viele kommen gerade noch so über die Runden"

Armut: Wenn das Geld knapp ist, gewinnt Gebrauchtes an Wert: eine Kundin mit voller Einkaufstasche vor dem Gebrauchtwarenhaus "Klawotte" in Ottobrunn.

Wenn das Geld knapp ist, gewinnt Gebrauchtes an Wert: eine Kundin mit voller Einkaufstasche vor dem Gebrauchtwarenhaus "Klawotte" in Ottobrunn.

(Foto: Claus Schunk)

Tafeln und Gebrauchtwarenläden spüren bereits die Auswirkungen von Inflation und Energiekrise. Für den nahen Winter sind sie sich sicher: "Da wird was kommen."

Von Bernhard Lohr, Ottobrunn

Die "Klawotte" muss man erst einmal finden. Der Secondhandladen ist in einem Hinterhof gegenüber einer Autowerkstatt. Nur ein verblasstes Schild am Straßenrand weist auf das Geschäft hin, das im Tiefparterre an der Alten Landstraße 5 in Ottobrunn liegt. Für eine Boutique wäre eine solche Lage der Ruin, doch die Kunden der Klawotte finden den Weg. An einem Dienstagmorgen ist der kleine Laden rappelvoll: Etwa 15 Kunden schauen, ob sie für wenig Geld möglichst viel bekommen. Eine Frau kommt gerade aus der Umkleide, eine steht bei den Jeans, andere sind bei den Haushaltswaren zugange. An der Kasse stehen vier Kunden Schlange. "Eine Tüte für Sie?", fragt die freundliche Verkäuferin im Dirndl an der Kasse. Für 34 Euro gibt es einen ganzen Berg an Kleidung. Sparen und günstig einkaufen - das ist in der heraufziehenden Krise auch im reichen Münchner Speckgürtel bei vielen angesagt.

Armut: Wer mit seinem schmalen Budget rechnen muss, schätzt die sechs "Klawotten" der Arbeiterwohlfahrt im Landkreis München.

Wer mit seinem schmalen Budget rechnen muss, schätzt die sechs "Klawotten" der Arbeiterwohlfahrt im Landkreis München.

(Foto: Claus Schunk)

Der Blick in den Ottobrunner Gebrauchtwarenladen ist eine Momentaufnahme und nicht zwingend ein Beweis für krisenhafte Verhältnisse. Die Arbeiterwohlfahrt (Awo) hat ihre sechs Läden, die sie im Landkreis München betreibt, schon als "Erfolgsprojekte" gepriesen, bevor Inflation und explodierende Energiepreise den Druck für viele erhöht haben. Ulrike Konrads leitet die Klawotte in Ottobrunn und sagt, nach der Schließzeit in der Sommerpause sei immer viel los. "Es sind nicht nur sozial Benachteiligte, die zu uns kommen." Es gebe auch Stammkunden, die den Laden als Flohmarkt ansehen und Schnäppchen sowie schöne, ausgefallene Ware suchten. Vintage ist ja auch angesagt. Und dafür muss es nicht immer der coole Secondhandshop in Schwabing sein. Aber die Not vieler Menschen ist in der Klawotte natürlich ein großes Thema. Eine Sechs-Euro-Jeans gibt es bei nachgewiesener Bedürftigkeit mit der Klawotte-Karte für drei Euro.

Bürgermeister richten Hilfsfonds ein: Wer das Energiegeld nicht selbst braucht, soll es spenden

Der günstige Preis dürfte bald noch mehr locken. Denn die Inflation wird zunehmend spürbar: beim Einkauf von Lebensmitteln, bei der Kleidung, aber vor allem bei der Energie. In Ismaning etwa hat der örtliche Gasversorger die Preise pro Kilowattstunde soeben verdoppelt. Der Geschäftsführer der Gemeindewerke, Franz-Josef Loscar, befürchtet Härten für viele, auch wenn die Umlage jetzt wieder in Frage steht und die Ende September anstehende Abrechnung fürs zurückliegende Jahr noch moderat ausfallen wird. Da gab es noch die alten, günstigen Lieferverträge. Aber: "Das Problem ist, dass wir noch gar nicht wissen, wo es hinläuft", sagt Loscar. Erst die kommenden Monate und die Endabrechnung 2023 würden das wahre Ausmaß der Preisexplosion beim Gas zeigen. Dabei rufen schon jetzt viele in Sorge bei den Gemeindewerken an und müssen irgendwie beruhigt werden. "Das Thema ist meinen Mitarbeitern auch bewusst", sagt Loscar. Diese seien alle sozial eingestellt, sagt der Chef, der vorrangig die wirtschaftliche Lage der Gemeindewerke im Blick haben muss.

Bürgermeister und Gemeinderäte im Landkreis sehen die Notlage auf beiden Seiten. Den Gemeinde- oder Stadtwerken können sie in die Preisgestaltung nicht reingrätschen. Sie setzen auf direkte Hilfe bei jenen Bürgern, die diese dringend brauchen. Kirchheims Bürgermeister Maximilian Böltl (CSU) etwa hat Anfang September den Fonds "Bürger helfen Bürgern" gegründet, in den in wenigen Wochen ihm zufolge eine sechsstellige Summe geflossen ist. Keiner werde in der Krise fallen gelassen, versichert Böltl. "Lassen Sie uns eng zusammenhalten!" Die Gemeinde verwaltet den Fonds, prüft die Bedürftigkeit von Antragstellern und zahlt bezogen auf jeden Einzelfall aus. Und zwar "schnell, pragmatisch, unbürokratisch", wie der Rathauschef verspricht.

Auch im reichen Landkreis München gibt es Menschen, die schon vor der aktuellen Krise kämpfen mussten oder in Not waren. Wem der volle Klawotte-Laden als Indiz dafür nicht reicht, kann den erst im Mai vorgelegten Sozialbericht 2021 studieren. Der weist auf Datenbasis aus dem Jahr 2019 immerhin 12 000 Menschen im Landkreis München auf, die auf Hartz IV oder Grundsicherung im Alter angewiesen waren. Das ist die Größenordnung einer Gemeinde wie Oberschleißheim oder Grünwald, wobei die Sozialverwaltung im Landratsamt von einer hohen Dunkelziffer ausgeht. Knapp 2300 Kinder und Jugendliche lebten 2019 im Landkreis in sogenannten Bedarfsgemeinschaften am Existenzminimum, das für knapp 1600 Senioren über 65 Jahren ebenso reichen musste. Und das in einem Hochpreis-Landkreis, in dem auch die Mittelschicht kämpfen muss, ihren Lebensstandard zu halten.

Bedroht sind jetzt auch die, die bisher ohne Sozialleistungen knapp zurecht kamen. Annegret Harms (SPD) ist Dritte Bürgermeisterin in Unterschleißheim und bekannt für ihr soziales Engagement. Sie wird auf der Straße, am Telefon oder beim Seniorenausflug der Arbeiterwohlfahrt angesprochen, wenn jemand in Schwierigkeiten gerät. Gerade in den letzten Wochen und Monaten nähmen die Hilferufe zu, sagt Harms. "Manchmal sind es ganz banale Dinge." Manchmal geht es aber auch um regelrechte Existenzsorgen und die Angst, die eigene Wohnung nicht mehr halten zu können. Immer wieder seien es Senioren oder alleinerziehende Mütter, überhaupt vor allem Frauen. Sie erzählt von Senioren, "die putzen gehen", und Müttern, die zum Schulanfang die Erstausstattung für ihr Kind nicht zahlen könnten. Viele andere kämen "gerade noch so über die Runden." Sie nehme den Leuten, die sich an sie wenden, nicht die Verantwortung ab, sagt Harms. Meistens gehe es auch nur um konkrete Einzelfallhilfe. Dafür vermittle sie die Bedürftigen weiter. Ihr geht es um Hilfe zur Selbsthilfe.

Armut: Annegret Harms, Unterschleißheims Dritte Bürgermeister, erhält viele Hilfsanfragen.

Annegret Harms, Unterschleißheims Dritte Bürgermeister, erhält viele Hilfsanfragen.

(Foto: Stephan Rumpf)

Einen kommunalen Fonds wie in Kirchheim gibt es in Unterschleißheim auch. Harms meldet Fälle weiter an den Verein "Unterschleißheim hilft", den der Beirat für Soziales vor Jahren schon ins Leben gerufen hat. Die evangelische Kirche ist als Partner mit im Boot, damit Geld gezielt an die Richtigen fließt. In Haar ist dafür die Bürgerstiftung zuständig. Deren Vorsitzender Jürgen Partenheimer, ein früherer Bankchef, sagt: "Wir kriegen die unterschiedlichsten Anfragen." Man sei mit dem Rathaus, den Kirchen und in der Gemeinde überhaupt gut vernetzt. Erst kürzlich habe man auf Hinweis der katholischen Pfarrei einer Familie geholfen, "der es ganz schlecht ging", sagt Partenheimer. Vor allem Spenden würden weitergegeben, 60 000 Euro waren das 2021. Die Stiftung verwaltet 3,5 Millionen Euro, wobei aber nur die zuletzt mageren Zinserlöse für soziale Belange bereit stehen wie das Bildungsprojekt "Kindern Chancen geben". Die wegen der Krise steigenden Zinsen kommen Partenheimer in dem Fall entgegen. Er hofft bald auf mehr Erlöse.

Der Sozialbericht für den Landkreis sieht besonders viele Menschen mit knappem Einkommen in Taufkirchen mit seiner Großsiedlung "Am Wald". Auch in Garching, Ottobrunn, Unterhaching, Haar sowie Oberschleißheim und Unterschleißheim leben nicht nur Betuchte. "Unterschleißheim hat eigentlich eine sehr durchmischte Bevölkerungsstruktur", sagt die Dritte Bürgermeisterin Harms. 19,6 Prozent der Unterschleißheimer müssen laut Sozialbericht mit weniger als 1500 Euro netto im Monat auskommen. Wie soll das gehen? "Da mache ich mir wirklich viele Gedanken drüber", sagt Harms. Aber auch im reichen Hachinger Tal und im Isartal gibt es Not. In Grünwald, das dank sprudelnder Gewerbesteuer einen großen Millionenbetrag auf der hohen Kante hat, ist mit 2,6 Prozent der Anteil der Senioren, die Grundsicherung zum Leben benötigen, sogar höher als in Unterschleißheim (2,4 Prozent). Nur in Garching, Oberschleißheim, Haar und Taufkirchen ist ihr Anteil mit 3,5 Prozent noch höher. In Grünwald haben die Grünen jetzt auch einen Hilfsfonds gefordert, um bei Härtefällen Menschen unter die Arme zu greifen.

Keine Panikmache, aber beim Isartaler Tisch hat sich die Zahl der Kunden bereits verdoppelt

Im Verhältnis zu ärmeren Regionen Deutschlands sind die absoluten Zahlen aber niedrig. Oberhachings Bürgermeister Stefan Schelle (CSU) warnt deshalb auch vor Panikmache. Dennoch sieht er Handlungsbedarf. Er nutzte gerade den Gemeindeempfang zu einem Aufruf zu Solidarität und schlug vor, dass jeder sein staatliches Energiegeld in Höhe von 300 Euro spenden solle, der nicht selbst unbedingt darauf angewiesen sei. Eine Woche später sagt Schelle, die Resonanz darauf sei groß gewesen. Gemeinsam mit der Nachbarschaftshilfe am Ort wolle er nun klären, wie so ein Notfallbudget ausgestaltet und verwaltet werden könnte.

Ganz banal ist das nicht, wie unter anderem aus Ismaning zu hören ist. Denn: Beliebigkeit darf es nicht geben, die Bedürftigkeit ist zu prüfen. Doch Schelle sagt, es sei wichtig, jetzt an die zu denken, die ihre Not nicht zugeben wollten. Gerade viele alt Eingesessene schämten sich und scheuten den Gang zum Amt. Oder den Weg in die Klawotte oder zu einer der vielen Tafeln im Landkreis München, bei denen zuletzt wegen der Geflüchteten aus der Ukraine die Zahl der Kunden stark gestiegen ist. Beim Isartaler Tisch hat sie sich um 200 schlicht verdoppelt, sagt dessen Vorsitzender Johannes Schuster. Er sieht die Einrichtung nicht nur als Essensausgabe, sondern als soziale Anlaufstelle für alle Belange.

Armut: Das Team vom Isartaler Tisch in Pullach um Johannes Schuster erwartet einen weiteren Andrang Bedürftiger.

Das Team vom Isartaler Tisch in Pullach um Johannes Schuster erwartet einen weiteren Andrang Bedürftiger.

(Foto: Claus Schunk)

Schuster hat ein engmaschiges Netz aufgezogen, das eigentlich jeden auffangen müsste, bis hin zur Sozialberatung mit der Caritas und einem Fachmann vom Lions Club. Die jetzt von vielen befürchtete Welle an Hilfsbedürftigen wegen Inflation und Energienot ist bei ihm noch nicht angekommen, doch er rechnet fest mit ihr: "Meine ganze Lebenserfahrung sagt mir: Es wird etwas kommen." Er geht davon aus, dass derzeit noch viele zuhause sitzen und hoffen und bangen.

Die Idee eines Hilfsfonds von Bürgern für Bürger, wie er auch Schelle vorschwebt, befürwortet Schuster. Er erlebt Solidarität in Pullach und Umgebung und ist überzeugt, dass die finanziell Gutgestellten im Isartal bereit seien zu geben. Sie täten es sogar gerne, wenn sie von einer Sache überzeugt seien. Oberhachings Bürgermeister Schelle möchte nicht nur Geld für Bedürftige sammeln, sondern dass Nachbarn gegenseitig aufeinander achten, ob sie über die Runden kommen. Auch Annegret Harms aus Unterschleißheim sagt, jetzt sei es wichtig, "dass es wieder Nachbarschaft gibt".

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