Arzneimittel:Mangelverwaltung auf Rezept

Arzneimittel: Wenn das gewünschte Medikament nicht da ist: In der Korbinians-Apotheke in Unterschleißheim stehen die Patienten Schlange.

Wenn das gewünschte Medikament nicht da ist: In der Korbinians-Apotheke in Unterschleißheim stehen die Patienten Schlange.

(Foto: Stephan Rumpf)

Ob Fiebersaft, Schmerzmittel oder Blutdrucksenker - jedes zweite verordnete Medikament ist aktuell nicht vorrätig. In den Apotheken herrscht "Land unter".

Von Bernhard Lohr, Landkreis München

Mitten in einer Erkältungswelle, in der viele mit Kopfschmerzen, Husten und Fieber zu Hause liegen, müssen Apotheker ihren Patienten das schwer Begreifbare erklären: Es fehlt für viele Erkrankungen an gängigsten Medikamenten, die gerade jetzt so viele dringend brauchen. Vor der Korbinians-Apotheke in Unterschleißheim etwa stehen die Patienten am Dienstag phasenweise in einer Schlange bis weit auf der Bezirksstraße. Inhaberin Martina Haasemann sagt, alle in ihrem Team leisteten "enormen persönlichen Einsatz", um nach Corona jetzt diese Krise zu bewältigen. "Wir müssen die Patienten beruhigen." Aber vor allem brauchten sie viel Zeit und Nerven, um für viele Kranke eine geeignete Medikation zu finden.

Schon in der Corona-Pandemie mussten die Apotheken Feuerwehr spielen. Unvergessen ist die Aktion kurz vor Weihnachten 2020, als innerhalb kurzer Zeit medizinische Masken an Millionen Menschen auszugeben waren. Die Korbinians-Apotheke baute damals eigens eine Hütte auf dem Gehsteig auf. Es galt ja auch, den Abstand zu wahren, weil damals der Start der Impfkampagne erst vorbereitet wurde. "Wir sind das dritte Jahr in Folge dabei, in der Vorweihnachtszeit die Versäumnisse der Politik auszugleichen", sagt Apothekerin Haasemann.

Arzneimittel: Apothekerin Martina Haasemann erlebt, dass ihre Branche immer wieder die Fehler der Politik an der Basis ausbaden muss.

Apothekerin Martina Haasemann erlebt, dass ihre Branche immer wieder die Fehler der Politik an der Basis ausbaden muss.

(Foto: Stephan Rumpf)

Es ist wieder richtig Dampf im Kessel. Oder: "Land unter", wie eine Apothekerin aus Unterhaching am Telefon sagt. Sie entschuldigt sich, für ein Gespräch leider keine Zeit zu haben. "Es ist eine Katastrophe", sagt eine Kollegin in Höhenkirchen-Siegertsbrunn und bittet ebenso um Nachsicht. Martina Haasemann nimmt sich dagegen ein paar Minuten und erklärt, was sich bei ihr in der Apotheke abspielt, wenn der Fiebersaft für Kinder aus ist, der gewünschte Blutdrucksenker nicht auf Lager und das vom Arzt verordnete Schmerzmittel seit Tagen nicht verfügbar. "Es ist einfach so, dass wir aufgefordert sind, aufgrund unserer Kompetenz Lösungen zu finden", sagt die Apothekerin. Das heißt: Es gilt, Alternativen zu finden. Andere Packung, anderer Hersteller, andere Dosierung. Doch wenn es den Wirkstoff einfach nicht gibt, helfe nur ein Anruf beim Arzt, ob er etwas anderes verschreiben könne, sagt Haasemann. Oft riefen mittlerweile aber auch die Ärzte schon vorher bei den Apotheken an und fragten, was sie denn noch verschreiben könnten. Sprich: Was habt ihr noch auf Lager?

"Was rein kommt, geht sofort raus", sagt ein Großhändler

Viel ist es nicht. Die Lage ist so ernst, dass am Wochenende Ärztekammer-Präsident Klaus Reinhardt vorgeschlagen hat, die Menschen sollten zu Hause ihre Arzneischränke sichten und nicht benötigte Mittel über eine Art Nachbarschaftsflohmärkte abgeben. Sogar abgelaufene Arzneien könnten so noch wertvolle Hilfe leisten. Gerade von Apothekern erntete er dafür heftigen Widerspruch. Silke Theede, Apothekerin in der St.-Alto-Apotheke in Unterhaching, spricht von einem fragwürdigen "Glücksspiel" und warnt: "Man weiß ja gar nicht, ob das Schmerzmittel oder das Blutdruckmittel über der Heizung gelagert worden ist." Der Apotheker sei eine wichtig Kontrollinstanz zwischen Arzt und Patient. Die miese Versorgungslage sei unschön und für die Patienten "frustrierend", räumt sie aber ein. Und es sei nicht absehbar, wann sie sich bessere.

Arzneimittel: Bei Sanacorp in Planegg scheint es, als wären die Regale unendlich lang und gefüllt. Doch es gibt große Lücken. "Was reinkommt, geht sofort wieder raus in den Verkauf."

Bei Sanacorp in Planegg scheint es, als wären die Regale unendlich lang und gefüllt. Doch es gibt große Lücken. "Was reinkommt, geht sofort wieder raus in den Verkauf."

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Bei der Sanacorp Pharmahandel GmbH in Planegg, einem der führenden Unternehmen im bundesweiten Arznei-Großhandel, hat man schon vor längerem gewarnt, dass Lieferketten von den Produktionsstätten in fernen Ländern brüchig werden. Im Sommer war zeitweise das Krebsmedikament Tamoxifen nicht verfügbar. Seit Wochen tritt nun der Mangel bei der "Massenware" zutage, wie es Unternehmenssprecher Norman Keil sagt. Also bei Fiebersäften für Kinder, bei ganz gängigen Schmerzmedikamenten und Antidepressiva. An die 400 Medikamente seien als nur bedingt lieferbar gelistet, sagt Keil und betont, dass niemand etwas hortet. "Was reinkommt", sagt er, "geht sofort wieder raus in den Verkauf." Bei Krebsmedikamenten hätten den Engpass viele noch nicht mitgekriegt. "Doch jetzt trifft es ganz, ganz viele Leute." Alle merkten jetzt, was Apotheker und Arzneimittelbranche leisteten, das "ist nicht trivial".

Arzneimittel: Normalerweise wäre das Regal voll mit Fiebersaft und Paracetamol. Doch es herrscht Mangelwirtschaft in den Apotheken.

Normalerweise wäre das Regal voll mit Fiebersaft und Paracetamol. Doch es herrscht Mangelwirtschaft in den Apotheken.

(Foto: Stephan Rumpf)

Jürgen Dietrich, Inhaber der Rathaus-Apotheke in Grünwald, hadert mit der aktuellen Situation und versucht bei vielen fehlenden Medikamenten "Alternativen zu finden", wie er sagt. Die Schuld gibt er dem aus seiner Sicht "überbürokratisierten System" der Medikamentenversorgung. "Die Ursache ist der Kostendruck, den die gesetzlichen Krankenkassen auf die Unternehmen ausüben." Mit Festbeträgen für Wirkstoffe, mit Rabattverträgen mit Herstellern und mit Kontingentierung von Medikamenten habe man ein rigides Korsett geschaffen, das alles abgewürgt habe, sagt Dietrich. Hersteller produzierten im billigen Ausland und die Kassen holten sich mit Retaxierungen Geld auch von den Apotheken erbarmungslos zurück, wenn aus ihrer Sicht zu teure Medikamente abgegeben wurden. Der Markt sei kaputt.

Arzneimittel: Frustrierender Blick auf den Bildschirm: Wo das rote "X" steht, ist ein Medikament nicht verfügbar.

Frustrierender Blick auf den Bildschirm: Wo das rote "X" steht, ist ein Medikament nicht verfügbar.

(Foto: Stephan Rumpf)

Aus Sicht von Apotheker Dietrich komplettiert das oft beschriebene bundesweite Apothekensterben das Bild von der Misere. Martina Haasemann in Unterschleißheim sieht das ähnlich. Sie erlebt ihre Branche wie in der Corona-Pandemie wieder mal als Prellbock an der Basis. Und das alles jetzt, wo sich viele vor Weihnachten mit Medikamenten eindecken. "Es ist wirklich schwierig", sagt sie, "bei jedem zweiten Rezept muss eine Sonderlösung gefunden werden." Das wiederum vor dem Hintergrund, dass den Apothekern 2023 Abstriche bei der Vergütung je verschriebenem Medikament angekündigt worden seien. Manchmal, sagt Haasemann, falle es schwer, "die Motivation hochzuhalten".

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