Zeitumstellung:"Ein Antreiber, der keine Pausen zulässt"

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Zeitforscher Karlheinz Geißler über das Diktat der Uhren, die Umstellung auf die Winterzeit und die Wichtigkeit von Erholungspausen.

Anne Goebel

Am Sonntag, 31. Oktober, endet um 3 Uhr die Sommerzeit. Die Uhr wird dann um eine Stunde zurückgestellt. Der Münchner Zeitforscher Karlheinz Geißler war bis zur Emeritierung vor vier Jahren Professor für Wirtschaftspädagogik an der Universität der Bundeswehr und Mitbegründer des Projekts "Ökologie der Zeit" an der Evangelischen Akademie Tutzing. Er leitet das Institut für Zeitberatung "timesandmore". Zuletzt hat der 66-Jährige das Buch "Lob der Pause - Warum unproduktive Zeiten ein Gewinn sind" im Oekom-Verlag veröffentlicht.

Auf der ganzen Welt bestimmen Uhren das Leben - zu unterschiedlichen Zeiten. Diese Chronometer sind an der Telefonzentrale des Bayerischen Hofs angebracht und zeigen, wie spät es anderswo auf der Welt ist. (Foto: Robert Haas)

SZ: Sie behaupten, die Verwendung des Begriffs "Zeitumstellung" statt "Uhrumstellung" sei falsch - und außerdem ein verräterisches Zeichen unserer ruhelosen Gesellschaft. Das müssen Sie erklären.

Karlheinz Geißler: Nicht die Zeit, die Uhr wird umgestellt. Das wird häufig verwechselt, weil man die Uhr mit der Zeit verwechselt. Wir sind es gewohnt, die Zeit von der Uhr abzulesen, dabei ist das eigentlich absurd. Eine Uhr ist ein Meßgerät für Räume. Die Zeiger legen eine bestimmte Strecke zurück, und wir meinen, dass diese räumliche Veränderung der Zeit entspricht. Das Ganze ist eine Hilfskonstruktion, weil der Mensch keinen Zeitsinn besitzt. Er muss einen anderen Sinn, eben das Auge, benutzen, um das, was er Zeit nennt, zu erfassen.

SZ: Aber ein Zeitgefühl haben wir schon?

Geißler: Natürlich haben wir das, und es ist sehr situationsabhängig. Sie kennen das von sich selber - mal vergeht die Zeit schnell, mal langsam. Die Uhr versucht genau das zu vermeiden, eine unabhängige Kategorie zu schaffen. Jede Stunde hat 60 genau gleiche Minuten, jede Minute 60 Sekunden, präzise wie ein Takt. Das widerspricht der subjektiven Zeit des Menschen und der Naturzeit, die nicht von Takt, sondern von Rhythmus bestimmt ist, von Jahreszeiten, Tag- und Nachtperioden. Vor 250 Jahren, als bei uns 95 Prozent der Menschen in der Agrarwirtschaft arbeiteten, brauchte niemand eine Uhr. Man lebte nach der Naturzeit. Wenn das Korn reif war, wurde es geerntet, vorausgesetzt, der Bauer ist vorher vom Hahn geweckt worden.

SZ: Das klingt paradiesisch. Aber 250 Jahre sind eine lange Zeit, und heute ist ein Leben ohne Uhr nicht denkbar. Es wäre auch nicht angenehm. Keine Reisen, keine Verabredungen, und Geld zu verdienen ist auch schwer ohne Uhr.

Geißler: Sehen Sie, die Uhr wurde Ende des 14.Jahrhunderts in Italien erfunden, bezeichnenderweise dort, wo sich auch das Bankenwesen entwickelte. Sie ist also aus wirtschaftlichen Gründen entstanden - Banken tun ja im Grunde nichts anderes, als Zeit in Geld verrechnen. Und seit der Industrialisierung, als die agrarischen Strukturen immer mehr verschwanden, bestimmt die Uhr unseren Alltag.

Seitdem unsere Gesellschaft sich über die Arbeit definiert, über die Produktivität, spielt Zeitmessung eine zentrale Rolle. Der Mensch wurde, so sage ich das gerne, uhrzeitkompatibel gemacht. Unser Güterwohlstand wäre ohne Uhr nicht denkbar. Aber die Uhr ist eben auch ein Antreiber, die keine Pausen mehr zulässt. Das verursacht Stress.

SZ: Stimmt es, dass Sie Ihr Leben weitgehend ohne Uhr organisieren? Wie geht das, in Ihren Vorlesungen, bei verabredeten Treffen?

Professor Karlheinz Geißler versucht, sein Leben so gut es geht ohne Uhr zu organisieren. (Foto: Robert Haas)

Geißler: Natürlich muss ich mich auch nach Uhrzeiten richten. Aber ich versuche, mich nicht hetzen zu lassen und Pausen nicht als Leerlauf zu sehen, sondern als kreative Zeiten. In Vorlesungen merke ich an der Unruhe der Studenten, dass die Veranstaltung zuende geht. Um bei Verabredungen niemanden zu enttäuschen, bin ich häufig früher da und warte eben. Andererseits gestatte ich Leuten, zu spät zu kommen.

SZ: Unpünktlichkeit gilt als unhöflich.

Geißler: In unserer Gesellschaft, ja. Wobei die Toleranz unterschiedlich ist, in Sizilien regen sich die Leute weniger auf, wenn sie warten müssen, als in Deutschland. In Italien ist übrigens auch die Nähe zur alten Naturzeit größer, dort können Sie noch Schilder mit dem Hinweis finden, dass die Tempelanlage "eine Stunde vor Sonnenuntergang" schließt. Und in anderen Kulturen gilt die Gleichsetzung von Pünktlichkeit und Verbindlichkeit grundsätzlich nicht. Dort, so erzählt mir mein Physiotherapeut aus Sri Lanka, verabredet man sich mit dem Hinweis: Wir treffen uns um sieben, wenn ich um acht nicht da bin, warte bis neun und geh' um zehn nach Hause. Warten wird nicht als verlorene Zeit empfunden, sondern als Möglichkeit für soziale Kontakte, Gespräche, Erfahrungen. Wobei sich das auch bei uns gerade lockert.

SZ: Inwiefern?

Geißler: Wir können verbindlich sein und trotzdem unpünktlich - indem wir anrufen. Das Mobiltelefon ersetzt die Uhr. Es heißt nicht mehr: Warum bist du zu spät?, sondern: Warum hast du nicht angerufen? Immer weniger Menschen richten ihr Leben nach der Uhr aus. Fernsehen on demand wird sich durchsetzen, Zeitungsartikel können Sie jederzeit im Internet lesen, Radiosendungen als Podcast hören - wir entprogrammieren unsere Gesellschaft.

SZ: Also eine Rückwärtsentwicklung, weg von der Fixierung auf die Uhrzeit?

Geißler: Einerseits ja. Aber nicht in dem Sinne, dass wir jetzt wieder bei der Naturzeit ankommen. Sondern wir verdichten die Zeit mehr, organisieren alles kurzfristiger und wollen in der gleiche Zeit immer mehr erledigen: mehr Erlebnisse, mehr Konsum, mehr Geldverdienen.

SZ: Wenn die Uhr eine immer geringere Rolle spielt, hat dann auch die Uhrumstellung weniger Bedeutung?

Geißler: Ja, die Umstellung betrifft immer weniger Menschen. Ihr wirtschaftlicher Nutzen ist umstritten. Ich begrüße sie trotzdem. Weil diese zusätzliche Stunde, die wir am Sonntag gewinnen, eine schöne Erinnerung daran ist, dass die Uhr etwas menschengemachtes ist. Ich kann nur hoffen, dass sich immer mehr Leute von der Uhr unabhängig machen.

© SZ vom 30.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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