Altenpflege:Urin, Nacktheit, Nachtschichten - und trotzdem Spaß bei der Arbeit

Aying, AWO Seniorenzentrum,

Zuwendung gehört auch zur Altenpflege dazu.

(Foto: Angelika Bardehle)

Altenheime suchen händeringend nach Pflegefachkräften. Viele setzen ihre Hoffnungen in Auszubildende wie Imra Mulic und Serif Ceric. Ein Besuch in der Frühschicht.

Von Irmengard Gnau, Aying

Josefa Berger ist heute dran mit Duschen. "Guten Morgen", ruft Imra Mulic, als sie das noch dämmrige Einzelzimmer betritt. Es ist zehn Minuten vor acht, Mulic ist seit etwa zwei Stunden auf den Beinen. Sie zieht die Vorhänge auf. Berger, die wie alle in diesem Text erwähnten Bewohner des Ayinger Seniorenzentrums in Wirklichkeit anders heißt, schaut der 23-Jährigen etwas verwirrt aus ihrem Bett entgegen. "Wir gehen jetzt unter die Dusche", sagt Mulic aufmunternd und schlägt die Bettdecke zurück. Sie fährt das Pflegebett nach oben und hilft Berger, ihre Beine über die Bettkante zu schwingen. "Halten Sie sich hier fest. Sie kommen jetzt in den Stuhl hier, sehen Sie?" Berger braucht noch ein wenig Zeit, um sich zu orientieren. Behutsam fasst Mulic sie bei der Hüfte und führt sie den Schritt zum Duschstuhl.

Seit September arbeitet Imra Mulic im Seniorenzentrum der Arbeiterwohlfahrt (Awo) in Aying, sie ist eine von fünf Azubis, die in diesem Jahr ihre Ausbildung zur Pflegefachkraft dort begonnen haben. Sie stammt aus Bosnien-Herzegowina, seit einem Jahr lebt sie in Deutschland. "Ich muss noch viel lernen", sagt die zierliche Frau und lacht. "Aber ich schaffe das." Sie fährt Berger ins Bad, kleidet sie aus, hängt Hose und Oberteil an einen Haken, nimmt den Verband an den Beinen der alten Dame ab, die Windelhose kommt in den Abfalleimer. Der erste Wasserstrahl ist noch kalt, Berger schaudert. Endlich wird es warm. "Achtung, ich shampooniere jetzt Ihre Haare ein", sagt Mulic. Auf dem Tisch in Bergers Zimmer steht eine angefangene Flasche Wasser neben der Vase mit Wiesenblumen. Auf einer Urkunde an der Wand gratuliert der Ayinger Bürgermeister Berger zum 85. Geburtstag und wünscht ein "schönes und sorgenfreies Leben".

Berger ist wieder trocken und wird jetzt in ihrem Tagesstuhl geföhnt. Mulic fährt mit dem Kamm durch das schüttere weiße Haar. "Das Wichtigste ist, dass man es mit Liebe macht", sagt sie und lächelt Berger im Spiegel zu. Berger blickt kritisch auf ihr Erscheinungsbild. Sie möchte noch eine Jacke über den Pullover anziehen. Mulic reicht ihr ihre Brille und hilft ihr, die Zahnprothese einzusetzen. Nun geht es auch besser mit dem Sprechen. Liegt das Kissen im Stuhl richtig, besteht keine Herausfallgefahr? Dann kann es losgehen zum Frühstückssaal. Danach muss Mulic noch einmal zurück, die Laken wechseln und das Bett machen.

Auf dem Rückweg fängt die Kollegin Mulic ab: Walter Kopp auf Station 4 hat geklingelt. Er braucht Hilfe beim Anziehen und jemanden, der ihm den Rücken eincremt. Ein Kollege hat sich heute früh krank gemeldet, darum muss Mulic auf der Nachbarstation mithelfen. Das Personalbudget wird von den Krankenkassen nach der Zahl der Bewohner eines Heims und deren Pflegebedürftigkeit kalkuliert, "knallhart", sagt Einrichtungsleiter Oliver Wahl. Trotzdem will er nicht klagen, die Pflegebesetzung habe sich zuletzt eigentlich immer verbessert. In der Frühschicht sind die Pflegekräfte zu acht für die maximal 63 Bewohner des Seniorenzentrums zuständig, inklusive der Hauswirtschafterinnen, die das Essen vorbereiten. "Manchmal ist es stressig", sagt Mulic, "aber oft auch lustig."

"Guten Morgen, Herr Kopp", ruft sie beim Betreten des Zimmers. Kopp ist schwerhörig und nicht mehr sehr mobil, aber sonst sehr rege. "Das ist Schwerstarbeit", grinst er, als ihm Mulic die Stützstrümpfe anzieht. Die Frühschicht ist die arbeitsreichste für die Pfleger. Alle Bewohner müssen geweckt, gewaschen und angezogen werden und schließlich mit Frühstück versorgt. Die mobilen Bewohner essen gemeinsam im Frühstückssaal, die anderen bekommen ihr Frühstück ans Bett. Serif Ceric ist bereits bei Agnes Rehm, als Mulic dazukommt. Zu zweit waschen sie die demente, bettlägerige Bewohnerin und kleiden sie an für den Tag. Ceric ist im dritten Ausbildungsjahr. "Ich habe die Berufswahl bis jetzt nicht bereut", sagt er.

Der 34-Jährige hat in Bosnien Sozialpädagogik studiert und an einer Schule gearbeitet. In Deutschland wird sein Abschluss nicht anerkannt, daher suchte er sich eine neue Ausbildung. "Die Pflege ist ein toller und spannender Beruf", sagt Ceric, "wenn man sich an den Teil mit den Ausscheidungen gewöhnt hat." Die Verdauung zählt zu den grundlegendsten Vorgängen des menschlichen Lebens, Windeln wechseln und auf die Toilette helfen zum Berufsbild. Dafür erlebten die Pflegekräfte aber auch viel Angenehmes, sagt Ceric: "Man bekommt so viel zurück. Wenn man abends nach Hause kommt, weiß man, man hat etwas Gutes getan."

Man verbringt so viel Zeit mit Arbeit, "da sollte man doch etwas Sinnvolles machen"

Trotzdem suchen viele Pflegeeinrichtungen verzweifelt nach neuem Personal. Die Lebenserwartung in Deutschland steigt, deshalb gibt es in Deutschland immer mehr Menschen, die Pflege brauchen. Der bayerische Patienten- und Pflegebeauftragte Hermann Imhof (CSU) warnte kürzlich, wenn dem Fachkräftemangel nicht rasch entgegengewirkt würde, sei eine qualitätvolle Pflege bald nicht mehr möglich. Das Problem? "Viele haben gar keine Vorstellung davon, was moderne Altenpflege ist", sagt Wahl.

Der Sozialarbeiter leitet das Awo-Seniorenzentrum in Aying seit 2010. 50 Mitarbeiter hat er insgesamt, gut die Hälfte davon arbeitet in der Pflege. Dass es in dem Beruf nicht nur um die technische Ausübung und das Wechseln von Windeln geht, sondern dass viel Kopf dazugehört, davon versucht Wahl junge Menschen oder Quereinsteiger auf Jobmessen und bei anderen Veranstaltungen zu überzeugen. Die Arbeit ist anspruchsvoll. "Aber wir verbringen so viel Zeit unseres Lebens in der Arbeit, da sollte man doch etwas Sinnvolles machen", findet Wahl. Zum Beispiel den Menschen, die Deutschland aufgebaut haben, am Ende ihres Lebens noch ein paar schöne Jahre ermöglichen.

Und das Gehalt? Dem Tarifvertrag der Awo zufolge verdienten Pflegefachazubis wie Mulic in Bayern 2017 im ersten Lehrjahr monatlich 1010,69 Euro, im dritten Lehrjahr sind es 1173,38. Tendenz steigend. Das Einstiegsgehalt nach der Ausbildung liegt nach Auskunft der Awo in der Regel bei 2700 Euro brutto zuzüglich Zuschlägen. Im Vergleich mit anderen Ausbildungsberufen liegt der Verdienst im oberen Bereich. Vorausgesetzt, der Arbeitgeber hält sich an einen Tarif.

"Für uns ist die Ausbildung lebenswichtig", sagt Wahl. "Wenn ich nicht ausbilde, bekomme ich keine Fachkräfte." Der Bedarf ist groß, die Konkurrenz auch. Sein Arbeitgeber, die Arbeiterwohlfahrt Oberbayern, versucht mit der multimedialen, jugendlich-bunten Kampagne "#Pflegeexperten" potenzielle Azubis anzusprechen. Gerade im Umkreis von München, wo Mieten und Lebenshaltungskosten hoch sind und es viele Arbeitgeber gibt, ist das allerdings nicht so einfach. Fachkräfte aus dem Ausland, wie Mulic und Ceric, spielen deshalb eine wichtige Rolle. Außerdem versucht die Awo, ihre Mitarbeiter zu unterstützen, zum Beispiel bei der Wohnungssuche. Gleich über dem Heim in Aying etwa hat die Awo zwölf Betriebswohnungen; eine davon bewohnt zurzeit Imra Mulic.

Zwölf Uhr, Zeit zum Mittagessen. Serif Ceric wärmt die Gefäße mit Rindergulasch und Kartoffeltalern in der Mikrowelle der offenen Stationsküche. Durch die Durchreiche hat er die Bewohner im Blick, die sich nach und nach an den Esstischen versammeln. Das Essen wird vorgegart angeliefert; drei Gerichte gibt es jeden Tag zur Auswahl. Für Maria Kunz und Martin Tischler schneidet Ceric die Kartoffeltaler in mundgerechte Stücke. Anna Dahl sitzt etwas abseits. Sie mag heute nicht essen. "Das Rindfleisch ist sicher zäh", argwöhnt sie. Celic redet ihr gut zu. Dahl möchte nun doch auch essen. Das Fleisch, stellt sich heraus, ist gar nicht zäh. "So tüchtige Leute", lobt Dahl zwischen zwei Bissen.

Imra Mulic bringt Sieglinde Gerst das Essen aufs Zimmer. Gerst ist stark dement und bettlägerig, sie spricht wenig. Als Mulic ihr den Brei mit Karottenmus präsentiert, reagiert sie nicht. Behutsam flößt Mulic ihr Löffel für Löffel ein. "Man braucht viel Geduld in diesem Beruf", sagt Mulic und lächelt. "Aber ich bin froh, dass ich die Ausbildung angefangen habe." Im ersten Ausbildungsjahr wechseln sich Schulunterricht und Praxis etwa monatlich ab, gemeinsam mit den anderen Azubis fährt Mulic außerdem jeden Dienstag in die Pflegeschule nach München.

Jedes Jahr erhöht sich der Praxisanteil in der Ausbildung, über die drei Jahre sind es insgesamt etwa 2500 Stunden, auch bei einem ambulanten Dienst und auf einer gerontopsychiatrischen Station, dazu kommen 2100 Stunden Unterricht. Gerst hat die ganze Schüssel leer gegessen. Mulic lächelt. Sie wischt Gerst den Mund mit einem Tuch ab und deckt sie wieder zu.

Ceric ist bereits im Nachbarzimmer bei Helga Gutabend, die ebenfalls bettlägerig ist. Auch sie hat gerade gegessen und bekommt nun eine neue Windel. Zu zweit rollen die beiden Azubis die Bewohnerin auf die Seite und betten sie am Ende so, dass möglichst wenig Druck auf Gesäß, Fersen und Hüften lastet. "Dekubitus-Prophylaxe", sagt Ceric. Wird die Position nicht regelmäßig verändert, nimmt die empfindliche Haut Schaden. Auf einem Plan an der Wand über dem Bett sind die Zeiten vermerkt, wann welche Position dran ist.

All ihre Arbeitsschritte müssen die Pflegekräfte täglich dokumentieren. Wie viel hat der Bewohner gegessen und getrunken, welche Medikamente hat er bekommen? War er gut gelaunt, gab es sonst irgendwelche Auffälligkeiten? Hedwig Kandela weist Mulic im Dienstzimmer in das System ein. Kandela arbeitet seit sechs Jahren in der Altenpflege, vorher war sie Krankenschwester auf einer forensischen Station. "Der Beruf ist nicht einfach", sagt die 62-Jährige und lächelt. Er umfasst Blut, Urin, Nacktheit, körperliche Belastung, Nachtschichten und nicht zuletzt das Umgehen mit dem Tod. "Das muss man können und wollen", sagt Kandela. "Aber der Beruf bringt große Befriedigung. Ich könnte mir keinen Bürojob stattdessen vorstellen." Die Kollegen nicken zustimmend, und man spürt, dass sie es ernst meinen.

Inzwischen ist es 13.45 Uhr. Die Spätschicht ist gekommen. Kandela und Ceric fassen für die Kollegen zusammen, was morgens passiert ist, bei wem es Auffälligkeiten gegeben hat. Auch Einrichtungsleiter Wahl schaut im Dienstzimmer vorbei. Er wirft einen Blick auf den Schichtplan. Imra Mulic macht noch einen Rundgang durch die Station. Alles ist ruhig. Zwei Bewohnerinnen unterhalten sich am Esstisch. Im Dienstzimmer bereitet Ceric das Medikamententablett für den Nachmittagskaffee vor. Bald ist die Frühschicht zu Ende. Um 15 Uhr verabschieden sich die beiden Azubis. Mulic will noch einkaufen. Morgen geht es wieder früh los.

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