Süddeutsche Zeitung

70 Jahre Grundgesetz:Artikel in guter Verfassung

Das Grundgesetz sei ein "epochaler Wurf", sagt Verfassungsrichter Michael Huber Wurf in seiner Rede beim Festakt in Pullach zum Jubiläum

Von Michael Morosow, Pullach

In einem Ort zu wohnen, der den Geburtstag des Grundgesetzes groß feiert, muss für Professor Peter Michael Huber eine Seelenfreude sein. Und die Gemeinde Pullach ist so ein Ort, mehr noch. Als einzige Kommune weit und breit hat sie zum 70-jährigen Bestehen des Grundgesetzes mit großem planerischen Aufwand ein mehrtägiges Festprogramm auf die Beine gestellt, mit Ausstellung, Musikfest, Lesung - und einem Festvortrag als Höhepunkt. Es hat sich für die Veranstalter geradezu aufgedrängt, Huber ans Rednerpult zu bitten, nicht nur weil er eine kurze Anreise hat, vor allem, weil er Richter am Bundesverfassungsgericht ist und als eloquenter Redner gilt. Als der 60-jährige Rechtswissenschaftler am späten Mittwochabend nach 40 Minuten seinen Vortrag zum Thema: "70 Jahre Grundgesetz - zwischen Dankbarkeit, Stolz und Verantwortung" mit den Worten beendete: "Der Rechtsstaat existiert durch das Gesetz oder er existiert nicht. Es ist in unser aller Verantwortung, dass daran auch in Zukunft nicht gerüttelt wird", brandete lang anhaltender Beifall auf im Festsaal des Bürgerhauses.

Es war eine Eloge auf das Grundgesetz und eine Mahnung zum pfleglichen Umgang damit, vorgetragen von einem Kenner und Verfechter der direkten Demokratie, der dann auch noch zu den wenigen Verfassungsrichtern im Lande gehört, die den politischen Betrieb auch schon von innen kennengelernt hat. Huber war von 2009 bis 2010 Innenminister des Freistaates Thüringen. Eingestimmt auf das Hohelied der deutschen Verfassung wurden die Besucher mit Ausschnitten aus der "Wochenschau" von 1948 und 1949, als das Grundgesetz gerade inmitten der Trümmer der Nachkriegszeit das Laufen lernte.

Der "epochale Wurf des Grundgesetzes und seiner Grundrechte", so Huber, liege daran, dass es auf seiner Basis gelungen sei, "die Rechtsordnung gewissermaßen vom Kopf auf die Füße und den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen." Heute blicke man, anders als vor 1949, nicht mehr von "oben" aus der Sicht des Systems, des Staates, der Politik, der Verwaltung auf eine Rechtsfrage, sondern von "unten" aus der Perspektive der betroffenen Bürgerinnen und Bürger, ihrer Rechte und Interessen, sagte Huber. Dieser Paradigmenwechsel habe seinen Grund in einem, durch die Erfahrungen mit der Naziherrschaft und ihrer Barbarei grundsätzlich veränderten Staatsverständnis, das der Herrenchiemseer Konvent auf den Punkt gebracht habe mit dem Satz: Der Staat ist um des Menschen Willen da, nicht der Mensch um des Staates Willen."

Es versteht sich, dass der Verfassungsrichter auch auf Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes einging, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist. Der Einzelne dürfe danach nicht zum Objekt staatlichen Handels werden. Vor diesem Hintergrund stelle der Artikel etwa Mindestanforderungen an das Strafverfahren, in dem der Angeklagte gehört und sich verteidigen können müsse und ein Gefangener nicht in einer zu kleinen oder fäkalienverschmutzten Zelle eingesperrt werden könne, sagte Huber. Umgekehrt verpflichte Artikel 1, Absatz 2 den Staat, jedem Hilfsbedürftigen materielle Voraussetzungen zur Verfügung zu stellen, die für seine physische Existenz und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich seien, sagte Huber weiter, um danach einen Seitenhieb auf gegenwärtige Tendenzen zu landen: "Das gilt auch für Asylbewerber."

Bei allem Stolz auf das Grundgesetz, das einigen anderen Ländern als Vorbild diente - ein Grund zum Auftrumpfen im Sinne des "mia san mia" sei das jedoch nicht - "eher zur Demut im Hinblick auf die damit verbundene Verantwortung", sagte Huber. Der Verfassungsrichter machte aber auch kein Hehl daraus, dass nicht jeder Buchstabe des Grundgesetzes im politischen Betrieb von Anfang an uneingeschränkt beachtet wurde. So sei die Gleichstellung nichtehelicher Kinder von Anfang in Artikel 6 geregelt, gleichwohl habe es 50 Jahre gedauert, bis sie einigermaßen abgeschlossen gewesen sei. "Erst dieses Jahr hat mein Senat den Ausschluss von Behinderten von der Bundestags- und Europawahl beanstandet", berichtete der Verfassungsrichter, der sich über einen Blumenstrauß am Ende wohl ebenso freute wie über den Aufwand, den sich die Gemeinde mit dem Festprogramm gemacht hatte. "Ein solches Programm stellen nicht viele Gemeinden auf die Beine", sagte denn auch Bürgermeisterin Susanna Tausendfreund (Grüne) stolz.

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SZ vom 31.05.2019/lb
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