Süddeutsche Zeitung

Laim:Magische Worte

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Johannes und Jonas Hanafi sind verlässliche Lesefüchse

Von Jana Heigl, Laim

Die ganze Etage wackelt, wenn Johannes und sein kleiner Bruder Jonas Hanafi strahlend die Wendeltreppe zur Jugendbibliothek hochstürmen. Mutter Christiane Finger folgt im Schlepptau und bekommt sofort eine "Wieso?-Weshalb?-Warum?"-CD ins Gesicht gestreckt. "Mama, Mama, können wir die ausleihen?"

Am Donnerstag saß der zehnjährige Johannes zum 203. Mal - wie er selbst stolz erklärte - in der Leseecke der Stadtbibliothek Laim. Mehr als 200 Mal! Das dürfte öfter sein, als so mancher eine Bibliothek überhaupt von innen gesehen hat. Normalerweise kommt er hierher, um Adele Wolf und Helga Rieder beim Vorlesen zuzuhören. "Ich mag es, mir Bilder auszudenken und die Geschichten zu hören", sagt Johannes. Seit fast sieben Jahren ist er nun schon Gast bei den Lesefüchsen, einem Verein, der sich dafür einsetzt, Kinder für Bücher zu begeistern.

Jede Woche treffen sich die Kinder mit ihren Vorlesern und lauschen eine Stunde lang spannenden Geschichten. So aufregend, dass sich Johannes jüngst beim ängstlichen Gesichtsausdruck seines sechsjährigen Bruders dazu genötigt fühlte, ihn zu belehren: "Jonas, Märchen gehen immer gut aus." Sie kennen die Vorlese-Kultur von zu Hause: Vorm Schlafengehen tauchen sie mit Mutter Christiane in die Zauberwelt von Harry Potter ein, begleiten die Legohelden "Nexo Knights" bei ihren Abenteuern oder verfolgen gespannt die Kämpfe der "Warrior Cats".

Jonas ist gerade in die erste Klasse gekommen - das Lesen und Schreiben fängt bei ihm gerade erst an. Nichtsdestotrotz war er in drei Jahren schon 100 Mal bei den Lesefüchsen dabei. Durch seinen Bruder fühlt er sich angespornt, der liest oft und gern. Auch, wenn Johannes seit dem Eintritt ins Gymnasium - er ist jetzt in der fünften Klasse - nicht mehr so recht Zeit findet, seine Nase in andere als Schulbücher zu stecken. "Ich komme überhaupt nicht mehr dazu", beklagt er sich. "Ich habe 14 ungelesene Bücher zu Hause."

Die Lesefüchse lässt er trotzdem nicht ausfallen, die gehören genauso zu seiner Woche wie das Tennis-Training. Die Vorleserinnen Wolf und Rieder kennen ihn schon, seit er mit dreieinhalb Jahren das erste Mal dabei war. "Johannes ist sehr schlagfertig", erzählen sie, "aber seinem Bruder gegenüber auch sehr fürsorglich". Damals kam Johannes mit seiner Mutter nur zufällig in die Bibliothek, die Familie hat ihre Wohnung gleich an der nächsten Kreuzung - erinnern kann er sich daran nicht mehr, zu lange ist es her.

Dass jemand bereits 200 Mal dabei war, "das haben wir noch nie erlebt", sagt Manfred Lucko ehrlich erstaunt. Er ist im Vorstand des Vereins. "Es ist für uns alle ein Geheimnis." Doch was treibt Kinder, die schon selbst lesen können, dazu, jede Woche in eine Vorlesestunde zu kommen? "Beim Vorlesen entsteht eine spezielle Beziehung", weiß Lucko. "Die meisten kennen das von zu Hause." Das Vorlesen umgibt offenbar eine gewisse Magie. Stefanie Zech, die stellvertretende Bibliothekschefin, findet, dass dieser Zauber von "der Leidenschaft und der ansteckenden Freude der Vorleserinnen" ausgeht. Vielleicht, so Manfred Lucko, bleibt es aber auch weiter ein Geheimnis.

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Quelle:
SZ vom 30.09.2017
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