Süddeutsche Zeitung

Kritik:Künstlerlos

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Das dritte Konzert von "La Bohème 2022" im Schwere Reiter ist die toll klingende Abbildung eines vorbeiwehenden Diskurses.

Von Egbert Tholl

Wenn nicht (fast) jede Inszenierung von Puccinis "La Bohème" in pittoresken Klischeebilder versänke, dann käme man schnell darauf, worum es hier eigentlich geht: Kapitalismuskritik. Die Künstler, die in der Oper unterm Dach hausen, Dichter, Denker, Musiker, Maler, sind arm. Es steht zu vermuten, dass sie nicht deshalb arm sind, weil sie nichts können, sondern weil sie am Markt vorbei produzieren. Künstlerlos. "Sie wollen das Unmögliche", aber müssen doch von dieser Welt sein. Sagt, so ungefähr, Matthias Günther, beherzter Dramaturg mit deutlichem Hang zu performativen Ausflügen, einer der Köpfe hinter "La Bohème 2022" - der andere ist Carl Oesterhelt.

"Bohème 2022" ist eine Konzertreihe, die auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Künstler heute, coronatraumatisiert, systemirrelevant, durchdigitalisiert rekurriert. So etwa der Ausgangspunkt. Teil drei widmet sich im Schwere Reiter dem Maler Marcello. Also sieht man am Anfang ein viel zu kurzes, viel zu schüchtern präsentiertes, aber in sich brillantes Video von Günther. Maler malen, Markus Lüpertz inszeniert die "Bohème" in seiner Bilderwelt in Meiningen, Günther rast durch die Stadt. Und ist dann schon wieder weg, genauso wie der Aplomb des Überbaus. Übrig bleibt ein sehr schönes Konzert, in dem man, rein musikalisch, wenn man will, das erspürt, worauf man eingenordet wurde.

Das Ensemble für synkretische Musik spielt "Études sur La Bohème III" von Oesterhelt mit Günther-Textimplantat, voll semidissonanter Spannung zwischen Sologeige und Streichseptett, im Video des ganzen Konzerts sieht man lebendige, geometrische, soghaft irritierende Grafik von Eugen Taran. Oesterhelts Flirren geht über in Enjott Schneiders klugen klanglichen Abdruck der Kunst Marcel Duchamps, gefolgt vom fabelhaft organisierten Chaos von Wolfgang Heisigs "Ringparabel", die im geräuschlosen Spiel verebbt - da feiert der Antikapitalismus stumm tönende Urständ, bis die Musik in Franghiz Ali-Zadehs "Oasis" für Streichquartett im Wind verweht. Danach sähe man unglaublich gerne abermals Matthias Günthers Video. Kommt aber nicht.

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