70 Jahre Befreiung KZ Dachau:Symbol der Schande, Symbol der Hoffnung

70 Jahre Befreiung KZ Dachau: Ergreifende Rede: Der KZ-Überlebende Abba Naor mit zwei seiner Urenkel am Rednerpult.

Ergreifende Rede: Der KZ-Überlebende Abba Naor mit zwei seiner Urenkel am Rednerpult.

(Foto: Niels P. Joergensen)

Zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers in Dachau erinnern Zeitzeugen an die Nazi-Verbrechen - und an die überwältigenden Emotionen, als die Amerikaner das Lager einnahmen.

Von Viktoria Großmann, Dachau

Jean Samuel spricht laut auf dem ehemaligen Appellplatz und etwa 1800 Menschen hören ihm zu. Darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU). Vor 71 Jahren wäre Samuel für dieses Lautsprechen getötet worden. Vor 70 Jahren war er frei. Befreit am 29. April 1945 von Truppen der U.S. Army aus dem Konzentrationslager Dachau. Jean Samuel hatte für die Résistance gearbeitet und kam deshalb ins KZ. Jahrzehnte lang hat Samuel über diese Zeit geschwiegen. Gemeinsam mit Vladimir Feierabend aus Prag und Abba Naor aus Israel sprach er zur Feier des 70. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers vor Gästen und Besuchern aus aller Welt.

Es ist das zweite Mal, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Gedenkstätte besucht und das ist ziemlich viel: Noch nie war vor ihr ein Bundeskanzler während seiner Amtszeit in Dachau gewesen. Merkel kam nicht nur, um einen Kranz niederzulegen. Sie war Gast der dreistündigen Zeremonie, vom Beginn am Jüdischen Mahnmal über den Besuch am Krematorium bis zum Festakt auf dem Appellplatz.

In ihrer Rede zeigte sie sich sehr bewegt darüber, dass etwa 130 Überlebende des KZ Dachau und einige der amerikanischen Befreier teils sehr weite Wege zurück gelegt hatten, um zurück zu kehren an den Ort schrecklicher Verbrechen. Sie versuchte, allen Opfern gerecht zu werden. Menschen aus ganz Europa und selbst aus Kongo, dem Senegal und Eritrea hätten in Dachau gelitten, sagte Merkel. Weil sie gegen den Nationalsozialismus gekämpft, sich ihm verweigert, andere Ansichten vertreten hätten oder "einfach nur, weil es sie gab".

Stellvertretend für die Zeitzeugen begrüßte Merkel Max Mannheimer. Der Vorsitzende der Lagergemeinschaft Dachaus hatte Merkel während des Wahlkampfes 2013 zu einem Besuch der Gedenkstätte eingeladen - erfolgreich. So wie er neben ihr, hatte sie neben dem 95-Jährigen während der Feier einen Ehrenplatz. Außer Merkel waren der frühere bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU), der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Anton Hofreiter, und der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) gekommen.

Zu Beginn sprachen der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, und Charlotte Knobloch, die Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München vor dem Jüdischen Mahnmal. Während Knobloch die Politiker ermahnte, sich für ein Verbot der rechtsextremen Partei NPD einzusetzen, forderte Schuster diese auf, den Besuch einer Gedenkstätte in den Lehrplan für Mittelschüler aufzunehmen. In Bayern sollen alle Schüler weiterführender Schulen in der neunten Klasse ein ehemaliges KZ besuchen. Kardinal Reinhard Marx sagte im ökumenischen Gottesdienst, die Erinnerung an die Nazi-Verbrechen und die Befreiung des Konzentrationslagers seien "wichtig für Europa und den Aufbau einer humanen Zivilisation".

Von Hoffnung und Zuversicht getragen waren die Reden vom Botschafter der USA, John B. Emerson, und dem Diplomaten und zugleich Befreier des KZ Dachau Alan Lukens. Er wandte sich an die damals Befreiten und sagte: "Ich war überwältigt von Ihnen. Von Ihnen und den amerikanischen Flaggen, die Sie für uns schwenkten und die Sie unter größten Gefahren für diesen Moment versteckt hatten." Von einem Symbol der Schande sei Dachau zu einem Symbol der Hoffnung geworden.

Botschafter Emerson besuchte Dachau zum zweiten Mal während seiner Amtszeit. Das erste Mal kam er kurz nach seinem Amtsantritt im September 2013. Bereits bei einem Besuch als Student habe sich ihm das Internationale Mahnmal Nandor Glids mit den verrenkten Körpern Gefangener im Stacheldraht ins Gedächtnis eingeprägt.

Diesem Denkmal ist als Teil der 70-Jahr-Feierlichkeiten seit dem 1. Mai eine Ausstellung in der Gedenkstätte gewidmet, die auch das Ringen um das richtige Gedenken veranschaulicht. Wie schwierig es für verschiedene Opfergruppen war und ist, Anerkennung zu finden, machte Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats der Sinti und Roma am Samstag in seiner Rede zur Gedenkfeier für die Opfer der Todesmärsche deutlich. Erst 1982 war die Tötung von etwa 500 000 Sinti und Roma als Völkermord anerkannt worden. Wie Schuster sagte auch Rose, man wolle den Nachgeborenen "keine Schuld aufbürden", sie trügen jedoch die Verantwortung dafür, die Erinnerung zu bewahren. Schüler aus ganz Bayern hatten sich mit Lesungen an den mehrtägigen Gedenkfeiern beteiligt.

Abba Naor brachte zwei seiner acht Urenkel mit auf die Rednerbühne. Er erinnerte an die etwa 1,5 Millionen von den Nazis getöteten Kinder, unter denen auch seine zwei Brüder waren. Seine zehnjährige Urenkelin hatte ihm bereits am Samstag während des Gedenkens an die Todesmärsche gelauscht. Ihr pinkfarbenes Hütchen wirkte in all dem getragenen Schwarz und Grau der Gäste wie ein Hoffnungsschimmer. Ein Signal wie eine Zeile aus einem jiddischen Lied: "Wir leben ewig!"

SZ-Forum

In allen Gedenkfeiern wird das "Nie wieder!" beschworen: Die Verfolgung und massenhafte Vernichtung Andersdenkender und Andersgläubiger darf sich nicht wiederholen. Doch hat Europa wirklich aus dem Holocaust gelernt? Diese Frage diskutiert die SZ am Donnerstag, 7. Mai, von 19.30 Uhr an in der Allerheiligen-Hofkirche mit vier Zeitzeugen: Ágnes Heller, die als Mädchen nur durch einen Zufall das Budapester Ghetto überlebte und später als Nachfolgerin von Hannah Arendt Philosophie in New York lehrte; Eva Umlauf, die als Kleinkind das Vernichtungslager Auschwitz überlebte und heute als Psychotherapeutin arbeitet; Abba Naor, der mehrere KZ überlebte und heute einer der engagiertesten Zeitzeugen ist; Richard Wadani, der aus der Wehrmacht desertierte und sich seit Ende des Krieges für die Rehabilitierung von Deserteuren einsetzt. Der Eintritt ist frei, Anmeldung per E-Mail unter events@sueddeutsche.de. SZ

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: