Süddeutsche Zeitung

Kurzkritik:Neu verortet

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Meliáns Konzert nach Hildegard von Bingen

Von Rita Argauer, München

Naturwissenschaft und Mystik, Kunst und Theologie waren sich im Mittelalter viel näher als heute. Das sieht man auch an den vielen Bereichen, in denen Hildegard von Bingen heute wieder auftaucht. Die Münchner Musikerin Cornelia Melián hat nun die Musik der Universalgelehrten für sich entdeckt und im Schwere Reiter aufgeführt. Doch anstatt einer Rekonstruktion der ursprünglichen Aufführungsweise verortet Melián mit drei weiteren Musikern die allesamt sakralen Stücke völlig neu: Im ersten Teil des Konzerts mit einem eher psychdelischen Weltmusik-Anstrich. Im zweiten dann mit einer klaren Referenz im Rock der Neunzigerjahre.

Doch die Mischung von Mittelalter und experimentierfreudiger Gegenwart ist spannend und erstaunlich funktional. Das liegt auch an der Kompositionsweise der Gesänge. Die liegen tonal alle auf einem Grundton, den Melián als stehenden, aber pulsierend atmenden Basston mit einer Shrutibox erzeugt. Am Anfang spielen dazu Ardhi Engl und Marika Falk. Die beiden erzeugen auf Rahmentrommeln und selbstgebauten Instrumenten einen wabernden Sound, der strukturell an frühen Krautrock erinnert: erdig und monoton. Die Melodien, die Melián darüber singt, passen sich erstaunlich gut ein. Das sind Stimmführungen, die kein Ziel verfolgen, sondern als tonal mehr statische Gebilde einen (vielleicht himmlischen) Seins-Zustand abbilden.

In Begleitung des Gitarristen Rolf Kirschbaum zeigt sich die Musik anschließend in völlig anderer Manier. Das rhythmische Korsett ist durch Drumcomputer enger geschnürt, die verzerrte Gitarre, die auf einem Akkord stehen bleibt, dort aber ein hackelndes Metal-Riff spielt, klingt schärfer. Auf Meliáns schön klarer, kraftvoller Stimme liegen gothic-düstere Hall- und Dopplungseffekte. Die popmusikalischen Referenzen beider Teile sind dabei nicht die frischesten. Der zeitumspannende Blick auf die Musik aber und die spürbare Lust Meliáns diese in der Gegenwart zu verorten, sind hinreißend.

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Quelle:
SZ vom 21.09.2020
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