100 Jahre Attentat auf Kurt Eisner:"Ich sah Zitternde, ich sah Wutblasse und Blutgierige"

Als Bayern ein Freistaat wurde

Sein Tod löste in München große Unruhen aus: Kurt Eisner.

(Foto: dpa)

Für wenige Momente verharrte München im Jahr 1919 in Schockstarre. Doch schon kurz nach der Ermordung von Kurt Eisner drohte in der Stadt die Rache des Proletariats.

Von Wolfgang Görl

Für die einen ist es die Schreckensmeldung schlechthin, andere empfinden tiefe Freude, und zwar nicht nur klammheimlich. Die Nachricht von der Ermordung Kurt Eisners fegt wie der Wind durch die Stadt, sie wühlt auf, und sie wirft ein grelles Licht auf den Graben, der die Anhänger der Revolution von deren Gegnern trennt. Auf der Promenadestraße, am Ort des Attentats, stellen Soldaten ihre Gewehre zu einer Pyramide zusammen, an deren Spitze sie einen Kranz befestigen, mit einem Porträt Eisners in der Mitte. Arbeiterfrauen legen Blumen ab, einige benetzen ihre Taschentücher mit dem Blut des Ermordeten, erzählen Zeitzeugen. Für wenige Momente verharrt die Stadt in Schockstarre, dann kochen die Emotionen hoch.

In seinem Roman "Wir sind Gefangene" schreibt Oskar Maria Graf, der undogmatische Freund der Revolution: "Ich sah Zitternde, ich sah Wutblasse und Blutgierige. Überall wiederholte sich das gleiche Schreien nach Rache. Die Massen kamen ins Treiben, der Strom floss durch die Stadt. Das war anders, ganz anders als am 7. November. Wenn jetzt einer aufgestanden wäre und hätte gerufen: ,Schlachtet die Bürger! Zündet die Stadt an! Vernichtet alles', es würde geschehen sein."

Auch die Schriftstellerin Ricarda Huch, keine Revolutionärin, aber eine Frau mit humanistischen Werten, ist über den Mord an Eisner entsetzt - doch die Angst vor der Rache des Proletariats wird ebenfalls in ihren Notizen spürbar: "Auf der Ludwigstraße fanden wir lebhafte Bewegung: Spaziergänger, wie man sie an so schönen Tagen zu sehen pflegt, Neugierige wie wir, vor allen Dingen Proletarier in großer Menge. Sie waren augenscheinlich zu einem kleinen Demonstrationszug geordnet, wie man solche seit der Revolution häufig zu sehen bekommt. Es fällt jedermann auf, dass man unter ihnen Gesichter sieht, die man sonst nicht sah: böse, unmenschliche, gefahrdrohende."

Tatsächlich ist die Lage explosiv. Gerüchte über einen konterrevolutionären Putsch kursieren. Um gewappnet zu sein, bringen die Revolutionäre an strategisch wichtigen Plätzen Maschinengewehre in Stellung. Auch patrouillieren bewaffnete Arbeiter auf Lastwagen durch die Straßen. Die Trambahnen stellen ihren Betrieb ein, in verschiedenen Vierteln der Stadt kommt es zu spontanen Demonstrationen, die sich unter der Bavaria vereinen. Auch darüber schreibt Oskar Maria Graf: "Die tausend kleinen Stürme hatten sich vereinigt, und ein einziger, dumpfer, dunkler, ungewisser Losbruch begann. Ich spürte es an mir am genauesten: Noch nie war ich so völlig Massentrieb gewesen wie jetzt. Auf die Theresienwiese jagten die Züge."

Die drei Arbeiterparteien konstituieren einen neuen Rätekongress und bilden einen ebenfalls neuen, aus elf Mitgliedern bestehenden "Zentralrat der Bayerischen Republik", der die Regierungsgeschäfte kommissarisch führen soll, bis eine endgültige Regelung gefunden ist. Vorsitzender wird der Sozialdemokrat Ernst Niekisch. Das Gremium bestätigt den spontan ausgerufenen, dreitägigen Generalstreik. Ferner erlässt es eine nächtliche Ausgangssperre und verhängt über München den Belagerungszustand. Wer raubt oder plündert, so steht es auf Flugblättern, die aus Flugzeugen abgeworfen werden, wird erschossen. Dennoch kommt es in der Nacht vereinzelt zu Schießerein und Plünderungen.

Neben Erzbischof Michael von Faulhaber, den viele Revolutionäre als Drahtzieher der Ermordung Eisners sehen, richtet sich die Wut gegen die Münchner Zeitungen. Ihnen wirft die Linke vor, wegen ihrer Hetze gegen Eisner mitverantwortlich für das Attentat zu sein. Soldaten und andere Aktivisten besetzen die Redaktionen, gedruckte Exemplare werden verbrannt. Am nächsten Tag erscheint lediglich das Nachrichtenblatt des Zentral-Rats, das in den besetzten Räumen der Münchner Neuesten Nachrichten gefertigt wurde.

Freude über den gewaltsamen Tod Eisners herrscht hingegen bei den Gegnern der Revolution. Der deutschnational gesinnte Lehrer Josef Hofmiller berichtet in seinem Tagebuch von "zahlreichen Leuten", welche die Todesnachricht mit "auffallend vergnügtem Gesichtsausdruck" verbreiteten. An der Universität sieht sich Professor Wilhelm Röntgen gezwungen, seine Vorlesung abzubrechen, weil die Studenten jubelnd den Tod Eisners feiern. Auch Klaus Mann, der damals zwölfjährige Sohn des Schriftstellers Thomas Mann, muss zur Kenntnis nehmen, dass in seiner Schule, dem Wilhelmsgymnasium, die Feinde der Revolution dominieren: "Ich verzeichne bitter, dass bei der Nachricht von der Ermordung Eisners in meiner Klasse Jubel ausbrach."

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