Für das ungeübte Auge sind die Kunstwerke im Sendlinger Wald gar nicht so leicht zu finden. Dazu zählen etwa ein Baumstumpf gefüllt mit Eicheln, Kreise aus gesammelten Holzstücken oder drei kunstvoll geflochtene Kugeln aus dünnen Zweigen, die versteckt zwischen Ästen hängen. "Die Leute stellen auf der Suche nach Details fest, dass der Wald ein Kunstwerk ist", erklärt Lore Galitz ihre Mission. Die Künstlerin und Religionspädagogin veranstaltet heuer zum vierten Mal das Projekt "Südpart - die Münchner Naturkunst-Biennale." 14 Künstlerinnen und Künstler haben dafür nur mit Materialien aus dem Sendlinger Wald, der oft auch Südpark genannt wird, Installationen kreiert, die in einem abgesteckten Teil des Areals insgesamt 24 Wochen lang zu besichtigen sind. Danach sollen die Kunstwerke bis zur nächsten Südpart in zwei Jahren wieder zerfallen.
"Es ist wichtig, dass der Wald in den Jahren dazwischen auch wieder Wald sein kann", findet Galitz. Offiziell und ganz vollendet eröffnet die Südpart am Samstag, 12. Juni. Tatsächlich werkeln die ausstellenden Teilnehmer bereits seit 1. Mai an ihren Exponaten. Der genaue zeitliche Startpunkt einer natürlichen Langzeitvernissage ist relativ und "beginnt, wenn wir das erste Mal mit einer positiven Absicht den Wald betreten", so Lore Galitz. Sie sieht die Aktion auch als ein spirituelles Ritual mit achtsamem Anfang und bewusstem Ende.
"Die Erde kippt", heißt ein unweit des Eingangs zu sehendes Stück mit einer besonders klaren Bildsprache. Der Künstler Ekkeland Götze erweckt auf einem Quadratmeter Wald durch einen optischen Trick die Illusion eines um 45 Grad gekippten Bodens. Das Kunstwerk, heißt es in dem an Ort und Stelle ausgelegten Programmheft, sei ein "Denkzettel" für den Zustand der Welt im Zeitalter des Menschen.
"Der Sendlinger Wald wurde immer wieder beschädigt", fasst Lore Galitz die Geschichte des Waldes zusammen, der vor gut 50 Jahren als Südpark teilweise neue Funktionen übernahm. Fichten-Monokulturen zogen Schädlinge an, Trockenheit ließ die Bäume leiden, und 2015 kam auch noch Orkan Niklas, der in einem besonders betroffenen Teil des Südparks zahlreiche Bäume entwurzelte.
Wo der Sturm die größten Schäden anrichtete, befindet sich ein Kunstwerk von Lore Galitz. Zwei Bäume links und rechts des Pfades, der sich durch dichte Brombeerranken frisst, bilden mit Fantasie einen natürlichen Bogen aus Zweigen und Stämmen. "Frau Holle Tor", nennt Galitz die Komposition und erklärt: "Ich biete anderen Leuten diese Assoziationen an." Die Künstlerin macht sich in ihren insgesamt drei Skulpturen die Natur zunutze und kontextualisiert dabei mehr als sie manipuliert. Die Skulptur "Das ganze Leben" besteht aus einem von Hand gelegten Kreis aus kurzen Hölzern, der drei Bäume in unterschiedlichen Lebensstadien - ein junger Trieb, ein ausgewachsener Baum und ein Stumpf - in Form einer Blütensilhouette umschließt. "Im Wald sind wir Teil eines großen Ganzen", sagt die Künstlerin. "Wir sind Teil eines Kreislaufs."
Vor allem den düsteren Zeiten des Kreislaufs sind in der diesjährigen Naturkunst-Biennale einige Kunstwerke gewidmet. Niko Jahns "Erde zu Erde" besteht aus einem toten Baumstumpf, auf dem ein grob geschnitztes Gesicht drapiert ist. Die Umgebung ist moosig, Sonne scheint auf das Blätterdach, sodass der Kopf der Skulptur aus wächsernem Holz grün schimmert. "Hier geht es um das Werden und Vergehen. Der Künstler hat einige Leute durch Corona verloren", sagt Lore Galitz.
Die Pandemie hat für die Künstlerin nicht nur die Menschen, sondern auch die Natur verändert. "Durch Corona ist das Waldgebiet mehr vermüllt", sagt sie. Tatsächlich liegen unter einem Holzhaufen am Wegrand alte Zeitungsblätter. Nebenan hat jemand ein Stück Holz an einer herkömmlichen Schnur aufgehängt - kein Kunstwerk der Südpart, wo die Künstler höchstens Bast verwenden dürfen, der sich von selbst zügig kompostiert.
"Das Universum war schon einmal ziemlich ruiniert", sagt Galitz vor einer der größeren Installationen und meint damit keine kosmischen, sondern irdische Zustände. Nina Leitls "Trisolaris", eine Komposition aus drei hölzernen Sonnen, musste nach einer Beschädigung in Teilen wiederaufgebaut werden. Ob die Ausstellungsstücke durch mutwillige Zerstörung, tierische Waldbewohner oder die Witterung durcheinandergebracht werden, lasse sich manchmal schwer sagen. "Es kam auch schon vor, dass Passanten ein kaputtes Stück wieder repariert haben", berichtet Galitz von einer vergangenen Biennale. Zwei Stücke der Südpart werden regelmäßig vernascht oder zumindest angeknabbert. Lore Galitz kennt die flauschigen Täter, die in den zahlreichen, ornamenthaft um die Baumstämme angeordneten Fichtenzapfen des Stücks "Drei Grazien torkelnd im Zapfenfluss" von Liz Wallinski ein Buffet zu sehen scheinen. "Dieses Kunstwerk müsste eigentlich Squirrel-Inn heißen", scherzt Galitz, die die von Eichhörnchen angeknabberten Bestandteile immer wieder durch frische ersetzt. "Da soll noch einer sagen, dass Kunst nicht systemrelevant ist." Auch vor ihrer Figur "Ende und Anfang", dem mit Eicheln gefüllten Baumstumpf, machen die Nager nicht halt. Galitz weiß: "Die Natur ist eben ein Raum des Wandels."
Noch bis Mitte Oktober ist die von der Landeshauptstadt, vom örtlichen Bezirksausschuss und vom Kulturreferat geförderte Schau in freier Natur zu sehen. Am Samstag, 12. Juni, sowie am Folgetag gibt es eine Führung, zu der man sich unter www.suedpart.de anmelden kann. Nach dem Ende der Biennale werden die 14 Kunstwerke wieder dem Wald und seinen Bewohnern überlassen. Mit etwas Glück bleibt bei den Besuchern ein Gespür für die natürlichen Kunstwerke des Walds.