Süddeutsche Zeitung

Kunstprojekt im öffentlichen Raum:Was Du nicht siehst

Zehn Tage lang erkundet der Performancekünstler Çağlar Yiğitoğulları die Stadt. Dabei rollt und kriecht er über den Boden. Die Passanten reagieren unterschiedlich, viele wenden sich ab. Doch es gibt auch Überraschungen

Von Yvonne Poppek

Der Mittwochvormittag teilt sich in ein Oben und ein Unten. Die Trennung tritt um kurz vor elf Uhr am Marienplatz ein, in dem Moment, in dem sich Çağlar Yiğitoğulları vor dem Kaufhaus Ludwig Beck auf den Boden setzt, kurz innehält und dann über den Boden in Richtung Mariensäule rollt. Langsam geht das, auch nicht schnurgeradeaus. Yiğitoğulları bewegt sich in Schlangenlinien, zieht den Kopf ein und rollt über die Schulterblätter von links nach rechts. Dann streckt er sich auf dem Rücken aus, kippt zur Seite, zieht die Beine an, dreht sich, landet wieder auf dem Rücken. Unter ihm sind die Pflastersteine des Platzes, über ihm beginnt es zu tröpfeln. Yiğitoğulları variiert, setzt sich hin, schiebt sich auch mit Händen und Fersen weiter. Mühsam, zäh und trotz der Geschäftigkeit der Innenstadt seltsam allein kriecht er dort über den Boden, Stückchen für Stückchen.

Yiğitoğullarıs quälende Fortbewegung ist eine Kunstprojekt der Kammerspiele. Auf zehn Tage hat der Performer es angelegt, es dauert noch bis zu diesem Donnerstag. Am dritten Tag seiner Performance arbeitet er sich also über den Marienplatz und weiter Richtung Stachus. Yiğitoğulları ist von zarter, aber trainierter Statur. Dennoch fühle er sich, nach zwei Tagen, bereits "quite crippled", ziemlich kaputt, erzählt er. Das ist ihm auf dem Marienplatz kaum anzusehen. Der 43-Jährige ist unterwegs, quasi im künstlerischen Tunnel, obwohl er de facto natürlich über den Boden kriecht. Und dieser wird immer feuchter, der Regen prasselt herunter, Yiğitoğulları hinterlässt Spuren, weil seine Baumwollkleidung die Nässe von den Pflastersteinen aufnimmt. Kurz sind seine Abdrücke zu sehen, bevor der Regen sie wieder verschwinden lässt.

Im April hatten die Münchner Kammerspiele angekündigt, dass der aus der Türkei stammende Performancekünstler eine von vier Stadtresidenzen erhalten habe. 124 Gruppen und Einzelkünstler hatten sich auf die Ausschreibung beworben. Yiğitoğulları reichte seine Idee ein, dass er auf dem Boden rollend die Stadt erkunden und dies filmisch dokumentieren lassen wolle. Damit setze er sich mit der Gesellschaft seiner Wahlheimat und seiner Rolle darin auseinandersetzen. Yiğitoğulları, der festes Ensemblemitglied des Istanbuler Stadttheaters und international mit seinen Performances unterwegs war, entschloss sich 2017 aus politischen Gründen seine Heimat zu verlassen. In Deutschland hat er eine temporäre Aufenthaltserlaubnis. Ob er dauerhaft werde bleiben können, sei noch ungewiss, sagt er.

Allen Widrigkeiten - vor allem denen des Wetters - zum Trotz überquert Yiğitoğulları an diesem Vormittag für seine Performance weiter den Marienplatz. Der Effekt dieser Fortbewegung ist erschütternd. Wer allein auf dem Boden einer Innenstadt sitzt und das Kindesalter verlassen hat, scheint automatisch in der sozialen Rangordnung ganz weit nach unten zu rutschen. Dort, wo Yiğitoğulları rollend und kriechend unterwegs ist, fällt der Bogen, den die Passanten sonst um ihresgleichen zurücklegen, größer aus. Meist haben sie Yiğitoğulları kurz vorher erfasst, dann ziehen sie ihre Kurve, den Blick in ein anderes Irgendwo gerichtet. Bei vielen tritt auch kurz darauf eine Art Erleichterung ein. Dann nämlich, wenn sie Zoë Schmederer entdecken. Sie begleitet den Performer auf seinem Weg mit der Kamera. Aus ihren Dreharbeiten soll der Film entstehen. Auch, wenn das Zusammenspiel von Kriechendem und Kamera nicht jeder als Kunstaktion entschlüsselt, die Verantwortung für den Menschen am Boden wird deligierbar, sobald Schmederer ins Blickfeld rückt.

"Sie sehen mich, aber sie schauen mich nicht an", sagt Yiğitoğulları. "Sie ändern klar ihre Blickrichtung." Manche allerdings würden auch Hilfe anbieten. Allerdings sind das dann nur kurze Kontaktnahmen. Yiğitoğulları signalisiert, dass alles in Ordnung ist. "Während meiner Performance bin ich nicht in der Stimmung zu reden", sagt er. Trotzdem möchte er das: eine Reaktion. Auch, wer seinen Weg ändert, die Blickrichtung ändert, reagiert. Seine Performance, die er sich für München überlegt hat, würde auch andernorts so funktionieren, glaubt er. Innerhalb Europas, dort, wo die sozialen Schichten scharf voneinander getrennt seien. Yiğitoğulları möchte die untere Schicht ins Bewusstsein rücken, "die andere Ebene des Kampfes, der so oft nicht gesehen wird."

Selbst wenn viele wegschauen, gibt es auch andere Reaktionen. Diese erscheinen einem wie Lichtblicke. Da ist etwa der Familienvater, der plötzlich auf einen zutritt und sich erkundigt, ob man zu diesem Mann gehöre, was dieser dort tue, ob er Hilfe brauche. Die Antwort, dass es ein Kunstprojekt sei und der Mann am Boden Schauspieler, scheint ihn vorerst zu beruhigen. Doch dann folgt sein Blick Yiğitoğullarıs Weg, fällt auf die Passanten und Tränen blitzen in seinen Augen. "Wie sind wir so geworden? Wir haben schon alles. Warum können wir nicht den anderen helfen?"

Die Konfrontation in der Fußgängerzone ist natürlich eine unmittelbare, keine, auf die man sich vorbereitet wie auf einen Theaterbesuch. Das Konzept ist nicht neu, schon in den Sechzigerjahren führte die Künstlerin Valie Export ihren Partner Peter Weibel auf allen Vieren an der Leine durch Wien. Doch dessen unbeachtet: Die Performance von Yiğitoğulları hat Wucht, weil sie die Trennung von Oben und Unten so offensichtlich macht, auch im metaphorischen Sinne. Er drängt die Menschen nicht dazu, ihn zu beachten, bietet ihnen nur seinen Blick an, kurz. Die meisten nehmen das Angebot nicht an.

Der Regen hat zwischenzeitlich ausgesetzt. Der Boden trocknet rasch ab. Nun drückt Yiğitoğulları die Feuchtigkeit seiner Kleidung in die Steine. Fast eine Stunde dauert sein Weg schon. Angestrengt schiebt er sich vorwärts, immer wieder verweilt er für einen Moment. Körperlich gehe Yiğitoğulları bei seinen Performances an die Grenze, sagt der Münchner Musiker und Veranstalter Tuncay Acar. Er begleitet den 43-Jährigen durch die Stadt, um ihn bei Gefahrenstellen zu schützen, etwa, wenn der Müllwagen in der Fußgängerzone dem Mann am Boden gefährlich nah kommt. Acar kennt Yiğitoğulları schon seit Jahren, hat ihn für künstlerische Projekte nach München geholt.

Während Acar seinem Künstlerkollegen also Aufmerksamkeit schenkt, ihm beisteht, gibt es in der Fußgängerzone auch das gegenteilige Verhalten. Es ist eine fast absurde Begegnung. Eine junge Frau steht in der Nähe der Michaelskirche, ihr Mobiltelefon in der Hand, angehoben zum Fotografieren, minutenlang. Yiğitoğulları kriecht in der Zeit in ihre Richtung, Meter um Meter. Immer wieder kontrolliert die Fotografin ihr Bild, hält das Handy erneut hoch. Unaufdringlich schiebt sich Yiğitoğulları zu ihren Füßen vorbei. Eigentlich müsste es irgendeine Reaktion geben, ein Schritt zurück, ein Blick, aber: nichts. Es ist, als existierte Çağlar Yiğitoğulları nicht. Ein bitterer Moment, der offenbart, dass es noch etwas Entwürdigenderes gibt als wegzuschauen, nämlich: gar nicht erst hinzusehen. Die Worte des traurigen Familienvaters hallen jetzt noch einmal nach: Wie sind wir nur so geworden?

Der Film "Çağlar Yiğitoğulları: Am Boden" wird am Freitag, 29. Mai, 19 Uhr, als Livestream gezeigt unter www.muenchner-kammerspiele.de

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Quelle:
SZ vom 25.05.2021
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