Süddeutsche Zeitung

Kunstpavillon:Bilder in Bodenhaltung

Mit einer unkonventionellen Präsentation unterwandert Gülbin Ünlü im Kunstpavillon Sehbequemlichkeiten und Erwartungen. Nichts gibt Sicherheit in ihrem Freispiel mit Identitäten und Erinnerungsfetzen - was man erst einmal aushalten muss

Von Jutta Czeguhn

Das mit dem aufrechten Gang wird überbewertet. Seit wann neigen wir Humanoiden so hartnäckig krönung-der-schöpfung-mäßig zur Zweibeinigkeit? Torkeln dabei aber labil und in einem anstrengenden Balance-Akt durch die Welt, anstatt uns sicher auf allen Vieren fortzubewegen. Über den evolutionär gewiss aufwendigen anatomischen Umbau des menschlichen Skeletts kann man derzeit ins Grübeln verfallen im Kunstpavillon im Alten Botanischen Garten. Wäre da nicht diese lästige Arthrose, man würde gerne vor den Werken Gülbin Ünlüs in die Knie gehen. Weil die erste große Einzelausstellung der Künstlerin wirklich großartig ist. Und weil es die beste Haltung wäre, diese Schau, die einen Perspektivenwechsel auch ganz körperlich einfordert, in sich aufzunehmen.

Es war im Januar, da hat die Künstlerin den Schlüssel für den Kunstraum bekommen. Mitten im eisernen, eisigen Lockdown konnte sie dort experimentieren wie in einem Atelier. "Es war schon komisch, kaum ein Mensch war hier unterwegs, ich fühlte mich irgendwie entkoppelt", erzählt Gülbin Ünlü, und freut sich, dass sie dort nun zumindest wohl bis zum Ostersonntag Publikum empfangen, sich also wieder rückkoppeln kann. Nach Voranmeldung, versteht sich, mit Maske im Gesicht. Für Ünlü ist der Kunstpavillon als Raum "sehr schwierig". Da ist seine an Jahren kurze Vergangenheit als Show-Room für Nazi-Kunst. Doch die klebt zäh an diesem Gebäude, auch wenn seit mehr als 70 Jahren hier an der Sophienstraße jede Schau, jeder Diskurs ein Statement für Freiheit, Offenheit und Verantwortung der Kunst ist. Anders als der Kubus selbst, der nach dem Zweiten Weltkrieg als dachlose Ruine dastand und wieder aufgebaut werden musste, ist der dunkle Steinfußboden noch im Original erhalten. Ünlü spürt seine Schwere, die von unten an den Schritten saugt, als sie mit ihren 80 Arbeiten hier ankommt und diese wie eine Fliesenlegerin über den gesamten Raum verteilt. "Mir war sofort klar, dass das die Ausstellungspräsentation wird", sagt sie. Vom Glasdach fällt nun natürliches Licht auf den Bilder-Teppich, der einem so vorkommt, als hätte da jemand in einem Anflug von Anarchie die Wände nackt gelassen und eine Petersburger Hängung einfach auf den Boden gekippt. Doch nichts war einfach an dieser "Legung". Unzählige Male ist Ünlü auf die Holzleiter gestiegen, die noch im Raum steht.

Mag sie deshalb einen Überblick haben? Wir, die Betrachter, die Kunsträume gerne reflexartig nach Strukturen, Ordnungen, Chronologien scannen und so schnell konsumieren, bekommen ihn jedenfalls nicht. "Wenn man links vorne steht, ist es unmöglich zu sehen, was rechts hinten liegt", sagt die Künstlerin. Auf das Fragmentarische, Assoziative, Spielerische muss man sich also einlassen. Es aushalten können, dass es keine Klarheit und Stabilität gibt. Wie in wilden Träume, die einen gegen drei Uhr nachts überfallen und verwirren, wenn Erinnerungsfetzen auftauchen und sich verspinnen zu wackeligen, verwischten Bildern. Und anders als im Meer der Datenströme des Internets, schafft hier kein Algorithmus eine Hierarchie. Kein Jäger legt die Spur aus, im Gegenteil, immer neue Wendungen, Abwege bieten sich an. Durch Gülbin Ünlüs Bilder-Labyrinth muss, darf man alleine - ja, was eigentlich - schreiten, waten, tippeln, kriechen? Alles in jedem Fall behutsam. Behutsam.

Nicht nur das Arrangement der Kunst im Raum macht alte Sehbequemlichkeiten gerade zu körperlich bewusst. Auch in den Arbeiten selbst ist dieses nur schwer fassbare Bilder-Flackern. Gülbin Ünlü verwendet Fotografien aus dem eigenen Familien-Archiv, Motive aus Filmen, Bilder aus Museen, aus Videospielen, die sich überlappen, gegenseitig promoten und wieder auslöschen. Die Künstlerin hat eine eigene Technik entwickelt, ein Hybrid zwischen Druck und Malerei. Die Motive werden mit Druckertinte auf Klarsichtfolie gelegt und dann auf Leinwand oder Papier übertragen. Noch feucht, fließen sie ineinander oder werden mit dem Pinsel bearbeitet. Das führt zu einer Abstraktheit, Unschärfe, die alles Biografische, das Gülbin Ünlü in den Arbeiten preiszugeben scheint, konsequent wieder ins Kryptische wandelt.

"Wie entsteht so etwas wie Identität, was macht uns aus?", fragt Ünlü. Der Titel ihrer Schau heißt nicht umsonst "Ohne Titel". Sie, die gebürtige Münchnerin, ist türkische Staatsbürgerin mit "Aufenthaltstitel" in Deutschland. Immer wieder kommt sie in ihren Bildern selbst vor, mit Clownsmaske oder weiß geschminktem Gesicht, was an das japanische Nō-Theater erinnert. Masken, sagt sie, geben ihr die Möglichkeit, mit dem Erwartbaren zu spielen, sich selbst aufzulösen. In einem der Videos hat sie ihren Teint hellrosa gepudert, das Haar blond gefärbt, blaue Augen auf die geschlossenen Lider gemalt. Sie steht im Regen, die Tropfen lassen ganz langsam die geliehene Identität zerrinnen. Als was wird man gelesen? Als Kind aus einer typischen Gastarbeiterfamilie, das schon früh aus vorgeschriebenen Mustern ausbrechen will und deshalb nach Altötting in ein Klosterinternat geschickt wird? Als Frau mit migrantischem Hintergrund, die an der Akademie der bildenden Künste in München beim Malerei-Professor Markus Oehlen studiert - und wie er das Cross-over liebt?

Unweit vom Eingang auf der linken Seite liegt eines der wenigen Bilder, das sich keiner Deutung verweigert. Großformatig auf Leinwand zeigt es einen Schimpansen mit weit ausgebreiteten Armen, als wollte er die Welt umfassen. Sein Fell hat die Farbe eines rot glühenden, warmen Sonnenuntergangs. Gülbin Ünlü erzählt dazu eine Geschichte, die alle zweibeinigen Aufrechtgeher voller Scham in die Knie zwingt: "Das ist Lana". US-Primatologen hätten mit der Schimpansin in den Siebzigerjahren Sprachversuche betrieben. Sie wurde isoliert und konnte nur mit einer speziell konstruierten Computer-Maschine kommunizieren. "Eines nachts tippte das einsame Tier in die Tastatur: Maschine, bitte, streichle mich."

Gülbin Ünlü, "Ohne Titel", noch bis 4. April im Kunstpavillon am Alten Botanischen Garten, Sophienstraße 7 a, Besuche nur nach Vereinbarung unter Telefon 59 73 59, kontakt@kunstpavillon.org. Öffnungszeiten: Dienstag bis Samstag von 13 bis 19 Uhr, Sonntag von 11 bis 17 Uhr, Montag geschlossen.

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SZ vom 20.03.2021/van
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