Kunst und Körper:Tai Chi vor Baselitz

Erst Kunst betrachten, dann den eigenen Körper bewegen: Wie das Projekt ,,Palais Pinakothek'' laufend an die Kunst heranführt.

Martina Scherf

Freitagabend im Kunstareal: Ein buntes Häuflein Menschen trabt rund um die Pinakotheken. Mal schneller, mal langsamer. Bei fast jedem Wetter. Es sind mutige Museumsbesucher, die sich nicht scheuen, an einem ungewöhnlichen Experiment teilzunehmen. ,,30:30'' heißt das Programm in zwei Halbzeiten, erfunden während der Fußball-WM. Dreißig Minuten lang wird ein Kunstwerk betrachtet, das im weitesten Sinne Bewegung ausdrückt: Max Ernsts ,,Windsbraut'' zum Beispiel, Oskar Schlemmers ,,Tänzerin'' oder der Porsche 356 aus der Designabteilung.

Pinakothek

Tai Chi in der Pinakothek

(Foto: Foto: Palais Pinakothek)

Danach wird eine halbe Stunde lang gelaufen. Vom Denken zum Tun, vom Schauen zum Selberbewegen - eigentlich ein logischer Schritt. Trotzdem mag es manch einem Besucher dabei gehen wie Wilhelm Busch: ,,Stets findet Überraschung statt, da wo man's nicht erwartet hat.''

Eine attraktive Dame Mitte 50 hat aufmerksam der Führung gelauscht, ohne zu ahnen, was sich hinter ,,30:30'' verbirgt. Als es nach draußen geht, blickt sie unsicher auf ihre Stöckelschuhe und sagt: ,,Tut mir wirklich leid, das geht nicht.'' Ein graumelierter Herr in Lederjacke fragt verdutzt: ,,Ist das ein Witz?'' Doch dann bittet er lediglich um gemäßigtes Tempo - der Blutdruck! - und walkt mit.

Ein junger Mann verkneift sich das Grinsen und zieht die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf; er entpuppt sich als Marathonläufer. Das Museum als soziale Begegnungsstätte - das ist Teil eines ungewöhnlichen Kunstkonzepts, das seit einem Dreivierteljahr im Palais Pinakothek verwirklicht wird.

Das alte Patrizierhaus, das die benachbarte Landesbank den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen mietfrei zur Verfügung stellt, ist eine Villa Kunterbunt der Kunstvermittlung. Wobei ,,Vermittlung'' das falsche Wort ist: Hier wird nicht doziert, sondern experimentiert. Das ,,Team Palais'' begreift Kunst nicht als Sache für Eingeweihte, sondern eher als Dienstleistung, um die Welt zu verstehen.

,,Kunst ist, was man nicht begreift'', hat Markus Lüpertz einmal gesagt, und die provozierende These des Malers lässt sich durchaus weiterdenken. Zum Beispiel so: Was man nicht be-griffen hat, kann man auch nicht verstehen. Nun können Museumsbesucher nicht Rembrandts Lichttechnik studieren, indem sie seinen Pinselstrich befühlen, oder Beuys' ,,Capri-Batterie'' - Zitrone plus Glühbirne - auseinandernehmen, um zu kapieren, wo der Strom fließt.

Aber wer Kunst verstehen will, muss selber sehen, fühlen, Stift oder Pinsel in die Hand nehmen, notfalls auch mal einen Kopfstand machen. Davon sind jedenfalls die Leute im Palais Pinakothek überzeugt: Fünf Kunsthistoriker und eine Künstlerin überraschen ihre Besucher in der Türkenstraße mit immer neuen Angeboten. Doch während inzwischen fast alle Museen mit ausgefalleneren Führungen und Aktionen versuchen, Publikum in ihre Häuser zu locken, wird hier eher Basisarbeit geleistet. Trotzdem gelten die sechs in der Hierarchie der ehrwürdigen Bayerischen Staatsgemäldesammlungen als ziemlich bunte Vögel.

In der Wunderkammer

Sonntagnachmittag in der ,,Wunderkammer'' unterm Dach. Hier ist ,,Weltwissen'' versammelt. Während sich die kleine Sophie ganz konzentriert mit einem Montessori-Fadenspiel beschäftigt, versuchen ihre Eltern Stefanie und Thomas, hinter das Geheimnis der roten Stäbe zu kommen. Irgendwie soll sich daraus die Gaußsche Summenformel ableiten lassen, aber wie? Plötzlich macht es bei Thomas klick: ,,Na klar! Eigentlich ganz einfach'', ruft er aus.

Stefanie lächelt milde. Mit den Stäben, so erfahren die Besucher, lassen sich auch die Größenverhältnisse von Dan Flavins Leuchtröhren nachvollziehen. Der Lichtkünstler beherrscht mit seinen Objekten derzeit die Pinakothek der Moderne. Und gerade die Minimal Art beruht auf mathematischen Gesetzen. ,,Jetzt versteh' ich endlich, was der Flavin macht'', sagt eine Frau und strahlt übers ganze Gesicht.

An zwei Sonntagen im Monat steht das Haus für alle Neugierigen offen. In der restlichen Zeit finden Workshops statt, die sich auf das Ausstellungsprogramm der Pinakotheken beziehen - für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und für körperlich oder sozial benachteiligte Menschen. Im Sommer ging es schwerpunktmäßig um Bewegung: Action Painting à la Jackson Pollock gab es da oder Tai Chi vor Baselitz.

Passend zum Winter, zum christlichen Kalender und zu Dan Flavin heißt das Motto jetzt: ,,Licht sehen''. In der Küche im Erdgeschoss gibt es Tee und Gebäck, Kerzen wärmen den Raum. Aber jeder Keks kostet eine Geschichte. Wie bitte? Ein Vater schiebt schnell seinen kleinen Sohn vor: ,,Da fällt dir doch sicher was ein.'' ,,Nein, nein'', sagt Teammitglied

Silvia Panter, ,,die Kekswährung gilt auch für Erwachsene. Setzen Sie sich doch erstmal zu uns.'' Und siehe da, wildfremde Menschen fangen an, sich was zu erzählen: von Weihnachten in der Kindheit, vom Krieg, aus der Schule oder von einer Reise nach Arizona auf den Spuren von Max Ernst.

In der ,,Werkstatt'' im ersten Stock laden Zeichentische zum Experimentieren mit Hell und Dunkel ein. Ein Zimmer weiter verbindet die blinde Gerda Kloske-Schindlbeck ihren Besuchern die Augen und lässt sie ihren Hör- und Tastsinn testen. Nebenan diskutiert Kunsthistoriker Jochen Meister mit seinen Gästen über die Lichtregie bei Tizian. Zuhören, mitreden, Gegenthesen aufstellen, alles ist in dieser hierarchiefreien Zone erlaubt, und am Ende profitiert die ganze Gruppe davon. Ein Paar, das sich noch vor einer halben Stunde im Erdgeschoss zerstritten hat (,,Ach du mit deiner blöden Kunst'') findet sich in der ,,Wunderkammer'' wieder. Und siehe da: Er legt die schwarze Motorradjacke ab und geht zur Ellipse, die auf den Boden gemalt ist und wo gerade zwei Kinder und ihre Mütter entlangschreiten. Wie er da vorsichtig Schritt vor Schritt setzt, einen Korb auf dem Kopf balancierend wie eine afrikanische Marktfrau, da ist er plötzlich hoch konzentriert. Fast möchte man sagen: Er hat die Kurve gekriegt.

Auch ein älterer Herr, Typ Opernabonnent, hat gerade drei Runden gedreht. Jetzt hält er einen Vortrag über den Übergang von der Romanik zur Gotik, vom Rundbogen zum Spitzbogen. Kenner und Laien, Willige und Unwillige treffen hier aufeinander und schulen ganz spielerisch ihre Wahrnehmung. Mittlerweile hat das Palais Stammgäste, die sich die offenen Sonntage im Kalender ankreuzen und mit der ganzen Familie kommen.

Und dann passiert es oft, dass Erwachsene etwas von ihren Kindern lernen. Zum Beispiel über Jesus, Maria, Josef und die Heiligen Drei Könige - ist ja nicht unerheblich für die christliche Ikonographie und die abendländische Kunstgeschichte. Vor allem aber lernen sie: neugierige Fragen stellen. ,,Unser Wissensvorsprung vor den Kindern ist viel kleiner als wir annehmen'', meint Teammitglied Annette Philp. Sie hat mit einer Kindergruppe Max Ernsts Gemälde ,,Die Erde, von der Maximiliana aus gesehen'' in der Pinakothek der Moderne angeschaut. Ein kleiner Junge fragt: ,,Wie konnte der wissen, wie das aussieht - damals ist doch noch niemand mit einer Rakete geflogen?''.

Aus einer Frage ergibt sich die nächste, und schon ist man mitten im Gespräch über unser Sonnensystem und die Vorstellungskraft des Künstlers. Zurück im Palais bittet die Kunsthistorikerin ihre Gruppe, auf der Ellipse die Bahnen der Himmelskörper nachzustellen. ,,Wenn du einmal selbst Planet warst'', sagt sie, ,,dann hast du plötzlich viele neue Fragen. Du lernst aus Erfahrung - und das ist nachhaltiges Wissen.''

(Offenes Palais wieder an den Sonntagen 14. und 21. Januar, von 13 bis 17 Uhr, Türkenstraße 4; alle Workshops im Internet unter www.pinakothek.de).

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