Süddeutsche Zeitung

Kunst:Schau mir in die Augen

Istanbuler Künstler blickt in die Gesichter von Flüchtlingskindern

Von Andrea Schlaier, Laim

Es ist ein auffordernder Blick, der Vorbeigehenden zuruft: "Schau mich an! Schau zurück zu mir, in meine Augen, sie haben dir was zu erzählen!" Jung sind diese Augen, mal ernst und zu dunkel für ihr Alter, erschöpft vor Enttäuschung, und dann wieder sprühend vor kindlicher Entdeckerfreude. Blicke wie eine Erzählung. Şinasi Göktürkler hat sie gesammelt, in seiner Heimatstadt Istanbul. Es ist das Sehen aus dem Antlitz von Flüchtlingskindern, von denen immer mehr durch die Straßen an den Ufern des Bosporus streifen. "Nachdenklich" mache ihn das, sagt der 36-jährige Künstler, als er für einen Tag an die Isar kommt, um seine aktuellen Arbeiten bei "Edeltraud", dem Begegnungszentrum für deutsche Sprache und Kultur in Laim, zu eröffnen. "Sie ziehen durch die Gassen und betteln."

Er hat die Gesichter, die ihm begegnen, unter dem Titel "Echt oder Spiegelbild" in Porträts gefasst und diese nach dem Prinzip des psychologischen Rorschachtests gespiegelt und teilweise wieder auseinandergerissen. So entstehen auch mal Köpfe mit drei Augen, zwei Nasen und zwei Mündern. Sie ruhen auf blutrotem Grund oder bevorzugt als schwarze Kontur auf weißem Leinen. "Diese Stoffe stehen symbolisch auch für den Stoff, den wir im Krieg als Friedenstuch hochhalten", sagt der regimekritische Künstler. Oder das Leichentuch, das über die Verstorbenen gelegt wird. Von etlichen der jungen Gesichter hängen lose schwarze Fäden aus dem Bild, als wollten sie es mit einer Krakel-Linie zertrennen, so wie es zersprengte Grenzen in Krisengebieten sind.

Wie nahe Elend, Wohlstand und Ignoranz selbst in Istanbul beieinander liegen, zeigte sich für Göktürkler auch, als seine Bilder in den dortigen Trump Towers gehängt wurden - direkt hinter die blinkende Vergnügungszone für die Kinder der Reichen. Den zynischen Widerspruch habe keiner im Blick gehabt.

Şinasi Göktürklers Arbeiten sind im "Edeltraud"-Clubhaus, Camerloherstraße 56, bis 3. Juni zu sehen: www.edeltraud-muc.de.

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Quelle:
SZ vom 05.05.2018
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