Mitten auf dem Lenbachplatz, zwischen Kaufrausch und Partyfieber, Konsum und Exzess, und umgeben von Prunkbauten steht das Billboard des Programms Public Art München. In einem Wettbewerb der Stadt München können Künstler ihre Werke einreichen, die dann für einige Wochen auf 25 Quadratmetern im Stadtzentrum ausgestellt werden. Derzeit ist das Motiv „May Day Relay“ der deutsch-indischen Künstlerin Sandra Singh zu sehen.
Als Sanda Singh erfährt, dass sie für zwei Monate das Billboard bespielen darf, fragt sie sich, „was man da zeigen könnte, was von gesellschaftlicher Relevanz wäre“, und entscheidet sich mit ihrem Motiv dafür, Flüchtlingstragödien auf der Mittelmeerroute zu thematisieren. Die Frontseite des Billboards zeigt ein überfülltes metallisches Boot mit Geflüchteten und die Rückseite das Zitat eines Frontex-Pilots, der so ein Schiff sichtet und „May Day Relay“ ruft.
May Day Relay – das ist der Hilferuf für andere. In diesem Fall für die 70 Insassen des Bootes, dem der Untergang droht. Sandra Singh hat den Notruf selbst bei ihrem Einsatz für Sea Watch aufgenommen. „Was das Zitat besonders macht, ist, dass es ein Frontex-Pilot ist, der sich so humanistisch zeigt. Dafür sind sie ja eher nicht bekannt, würde ich behaupten“, sagt sie. „Sie stehen eher für illegale Pushbacks und eine Abschottung der EU. Aber dieser Pilot hat seine Menschlichkeit entdeckt, und das fand ich sehr spannend.“
Das gelb geschriebene Zitat liegt auf einem blauen Hintergrund aus Meer und Himmel. Das Blau des Fotos soll mit dem des Münchner Himmels die Welten verschwimmen lassen, erklärt die Künstlerin. „Das bricht unsere Realität, wenn so ein Hilfe-Notruf an unserem Himmel auftaucht und so ein Boot über unseren Himmel schwimmt. Das ist eine Realität, die wir in Deutschland nicht mitbekommen“, sagt sie, „wir wollen uns auch sicher nicht damit auseinandersetzen, was an unseren EU-Außengrenzen passiert“. In ihrem Kunstwerk werde das „konfrontiert miteinander“.
Das Boot zum Hilferuf des Frontex-Piloten ist eines der vielen Boote, dessen Verbleib ungewiss ist. Was mit den 70 Menschen geschehen ist, wissen weder die Aktivisten von Sea-Watch noch die europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache Frontex. Das sei ein häufiges Szenario, sagt Sandra Singh. „Wir wissen von ganz vielen Booten, die einfach verschwinden.“ Ob die Geflüchteten ertrinken, ankommen oder zurückgedrängt werden, bleibt unklar. Das Mittelmeer gilt als die gefährlichste Fluchtroute der Welt. Seit dem Jahr 2014 sind dort knapp 30 000 Geflüchtete ertrunken, und viele mehr sind vermisst. Das Werk „May Day Relay“ ist ein Weckruf, nicht zu ignorieren, was an den europäischen Außengrenzen passiert.
Sandra Singh: „May Day Relay“, Kunstinsel am Lenbachplatz, bis 30. September