Süddeutsche Zeitung

Kunst am Bau:Die sprühen vor Ideen

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In Obersendling verwandeln diese Woche neun internationale Wandkünstler neun ehemalige Siemens-Gebäude mit Street-Art. Hält das Wetter, ergibt das bis Freitagabend Kunst auf insgesamt 1000 Quadratmetern Fläche

Von Thomas Jordan

Als erstes fallen einem die gelben Hebebühnen auf, die hier überall an den Häuserblöcken auf dem Siemens-Campus-Süd in Obersendling herumstehen. Neun solcher "Steiger", wie es in der Sprayer-Szene heißt, sind hier an der Hofmannstraße auf dem ehemaligen Siemens-Werksgelände verteilt. An ihrem oberen Ende, in etwa 20 Meter Höhe, sieht man neben grünen und schwarzen Sonnenschirmen winzige Gestalten Farben an die Wände malen. Ohne die Sonnenschirme ginge es bei der Hitze nicht, sagt Mirko Reisser. Seit Stunden steht der Hamburger an diesem Vormittag schon an der 17,5 Meter hohen Wand, und genauso lange knallt die Sonne schon auf das fünfstöckige, ehemalige Wohnhaus der Siemens-Mitarbeiter an der Hofmannstraße.

"Daim" ist einer der wenigen klassischen Graffitikünstler, die seit Montag an dem Urban-Wall-Festival teilnehmen, bis spätestens Freitag soll sein "Piece", der Schriftzug seines Künstlernamens "Daim", die triste weiße Wand aufwerten. Es ist ein echter Mal-Marathon, den der 48-Jährige Künstler Daniel Man im Auftrag der Gelände-Eigentümerin, einer Augsburger Immobilienfirma, organisiert hat: Von Montag bis Freitagabend gestalten neun Wandkünstler die Fassaden von neun Häuserblöcken mit je fünf Stockwerken auf dem ehemaligen Siemens-Areal. Insgesamt knapp 1000 Quadratmeter sollen künstlerisch verschönert werden.

Organisator Daniel Man, der bereits im Jahr 2014 mit seinem "Eis, Eisbaby-Projekt" vor dem Münchner Lenbachhaus auf provokative Weise in den öffentlichen Raum eingegriffen hat, hat ein internationales "Who is Who" der Wandkünstler-Szene angelockt: Die brasilianischen Brüder "OsGemeos" zum Beispiel, deren Wandkunst bereits die Tate-Gallery in London ziert. In ihrem "Steiger" arbeiten sie gerade hoch in der Luft. So konzentriert sind die Beiden, die auch schon im Münchner Werksviertel Wände verschönert haben, "dass wir sie besser nicht ansprechen", sagt Daniel Man. Für "Okuda", wie sich der spanische Street-Art-Künstler Oscar San Miguel nennt, ist es das erste Mal in München.

Zuhause in Madrid findet gerade die große Parade der Lesben- und Schwulenbewegung statt, und weil er nicht persönlich anwesend sein kann, will er mit seinem Münchner Wandkunstwerk eine "direkte Botschaft der Freiheit" aussenden. Denn das poppig-surrealistische Porträt zweier sich küssender Frauen, eine davon verschleiert, befindet sich direkt gegenüber einer Baustelle, auf der in den nächsten Jahren das chinesische Konsulat in München entstehen soll. Die Provokation ist Programm.

Es ist ein Wandkunst-Festival, bei dem nicht nur Künstler aus der ganzen Welt oft zum ersten Mal aufeinandertreffen, sondern auch eine Begegnung unterschiedlicher Stile. So hat sich der Münchner Rafael Gerlach etwa für ein ganz abstraktes Gemälde entschieden. Sein Thema allerdings ist nicht weniger politisch. Zusammen mit dem Künstler-Kollegen Axel Voith will er auf der 17,5 Meter hohen Doppelwand den Einschlag einer Atombombe darstellen. Während sich auf Voiths Wandseite schon eine ziemlich figürliche, beinahe impressionistisch anmutende Bomben-Rauchwolke erhebt, ist Gerlach auf seiner Seite noch ganz am Anfang.

Am Montag hat er seine Wand grundiert und bis gerade eben die einzelnen orangen Bomben-Splittermotive vorgezeichnet. Bis zum Abend will er zumindest die erste Farbe aufgebracht haben. Gegen die Hitze hat er sich ein weißes T-Shirt um den Kopf gebunden, trotzdem wirkt er nach vier Stunden Arbeit an diesem Vormittag erschöpft. Jetzt ist er auf dem Weg ins Erdgeschoss eines der zentraler gelegenen fünfstöckigen Häuser, um sich am Mittagsbüffet zu stärken. Dort haben die Organisatoren das "Café-Scale" eingerichtet, den Mittelpunkt der Mal-Aktion. "Qualitativ sehr hochwertige Kunst braucht auch qualitativ hochwertiges Essen", sagt der Ernährungsberater Klaus Müller. Er hat sich extra für die Woche Zeit genommen, um die Künstler mittags und abends mit gesundem Essen zu bekochen.

Denn neben der Kunst steht während des einwöchigen Mal-Marathons auch die Gemeinschaft im Vordergrund: "Dass ganz hochkarätige Künstler an einem einzigen Fleck in einer einzigen Woche gleichzeitig malen, das ist selbst für die Cracks hier ziemlich neu", sagt Organisator Daniel Man. Bei anderen Festivals reisen die Künstler normalerweise zeitversetzt an und ab, jeder steht an seiner Wand für sich, man trifft sich kaum. Daniel Man wollte sich dagegen mit dem einwöchigen Münchner Mal-Marathon einen langjährigen Wunschtraum erfüllen: "Ich wollte meine Künstlerfamilie zusammenbringen."

Street-Art ist für den 48-jährigen Augsburger in erster Linie eine kommunikative Kunstform, schließlich sind die Kunstwerke für alle offen zugänglich: "Eine Botschaft für alle" nennt er das und ergänzt, "ich will den Leuten was sagen". Für Daniel Man bedeutet das auch eine Menge Stress,hin und wieder gibt es im Scale-Café, wenn die Künstler mittags hungrig und angespannt einlaufen, auch mal Scherben. Aber das renkt sich alles wieder ein, schließlich haben alle hier das gleiche Ziel: Bis zur Vernissage am Freitagabend mit neun Wandkunstwerken fertig zu werden.

Das einzige, was wirklich schwierig werden könnte, ist das Wetter: Für Mittwoch sind Regenschauer angesagt, die Temperaturen sollen nach unten gehen. "Bis zu einem gewissen Grad Regen kann man zwar noch draußen arbeiten, aber wenn er so stark wird, dass er die Farben abwäscht, dann haben wir ein dickes Problem", sagt Man. Indirekt haben die trüben Wetteraussichten aber auch einen Vorteil: Die Künstler arbeiten dadurch noch schneller, und so sind immerhin drei der Wandkunstwerke nach zwei Tagen schon so gut wie fertig.

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SZ vom 28.06.2017
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