Kulturschätze:Das Ikebana des Direktors

Daniel Hess will das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg in die Zukunft führen. Seit Juli vergangenen Jahres leitet er das Haus und muss drei Baustellen koordinieren

Von Sabine Reithmaier

Daniel Hess startet mit einem ganz besonderen Ritual in jede Arbeitswoche: Er arrangiert er in seinem Büro Blumen zu einem Ikebana-Gesteck. "Das ist das erste, was ich am Montagmorgen mache", sagt der Mann, der seit fast einem Jahr Generaldirektor des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg ist. "Klingt blöd, ist aber eine Haltung." Atmosphärisches ist dem gebürtigen Schweizer ebenso wichtig wie die Konzentration auf den Moment, so flüchtig er auch sein mag.

Hess, Jahrgang 1963, ist im Juli 2019 mit dem Vorsatz angetreten, das Museum offener, kreativer und europäischer zu machen. Was er natürlich nicht als Kritik an seinem Vorgänger verstanden haben will. "Aber ich denke, das Haus hat noch sehr viel Potenzial." Veränderungen umzusetzen ist nicht so einfach, wenn man so ein behäbiges Schiff wie das Germanische Nationalmuseum (GNM) steuert. 1852 wurde es gegründet. Drei Jahre nach dem gescheiterten Versuch, einen demokratisch verfassten deutschen Nationalstaat zu etablieren. Ziel des Museumsprojekts damals: die Einheit des "germanischen Kulturraums" und damit aller deutschsprachigen Gebiete zu dokumentieren - also der Nationalstaaterei entgegenzuwirken. Von daher passt es schon, dass Hess sich sein Haus, eines von acht Leibniz-Forschungsmuseen Deutschlands, europäischer wünscht und Dialoge sucht, die weit über den eigenen Tellerrand hinausreichen.

Statt einer Behörde wolle er ein Kreativlabor leiten, sagt er. Ein Patentrezept für die Veränderung hat er freilich nicht. "Wir müssen ausprobieren, Strukturen schaffen, die Beweglichkeit und Veränderbarkeit auch in der Zukunft möglich machen." Auf jeden Fall will er weg von den alten Abteilungsstrukturen hin zu einer Kultur, die Diskussionen und Experimente zulässt. Das klingt alles sehr schlüssig, verlangt aber viel Überzeugungsarbeit im eigenen Haus. 237 Mitarbeiter, darunter knapp 80 Wissenschaftler in 15 Sammlungen unter einen Hut zu bringen, ist keine leichte Aufgabe. Hess wirkt noch ein bisschen überrascht, wenn er von der Angst vor Veränderung erzählt, die manche Abteilungen befallen hat. "Das ist eine echte Herausforderung, die ich falsch eingeschätzt habe", sagt er. Was ihn aber von seinem Ziel nicht abbringt: eine neue, gemeinsam getragene Verantwortung für das Haus zu entwickeln - "das wäre großartig."

Kulturschätze: Von dem Dürer-Kopisten stammt "Distel und Erdbeere mit Föhrenzapfen und Schnecken", 1583.

Von dem Dürer-Kopisten stammt "Distel und Erdbeere mit Föhrenzapfen und Schnecken", 1583.

(Foto: Monika Runge)

Der Kunsthistoriker, der im Vorjahr zudem auf den neugegründeten Lehrstuhl Museumsforschung und Kulturgeschichte an der Uni Erlangen berufen wurde, ist schon seit 1998 am Haus. Er leitete lang die Sammlungen der Malerei bis 1800 und der Glasmalerei und ist unvermindert begeistert von seiner Arbeitsstätte. Das Museum sei einzigartig in seiner Verbindung von Hoch- und Alltagskultur, schwärmt er. Einerseits ein Tresor für Kostbarkeiten, andrerseits eine "Notfallstation" (Hess) für Dinge, die ansonsten aus dem kulturellen Gedächtnis verschwinden würden. Das Museum reagiert wie ein Seismograf auf gesellschaftliche Veränderungen. "Was bei uns landet, wird draußen nicht mehr gebraucht." Egal ob es sich um alte Handwerkstechniken handelt oder den nachhaltigen Umgang mit Rohstoffen. Früher besaß jeder Berufszweig Spezialisten, die Gegenstände reparierten. Heute wird einfach weggeworfen.

Nur durch das Aufbewahren allein bleiben die Dinge nicht im Gedächtnis. "Ihren Wert behalten sie nur, wenn wir über sie erzählen und dadurch kostbar machen." Wichtig auch der aktuelle Bezug, der dem Besucher klarmacht, warum ihn ein Gegenstand heute noch interessieren sollte. Der zeitgenössische Hintergrund verändert die Sicht auf Objekte, was sich am berühmten Behaim-Globus gut nachvollziehen lässt. Die älteste erhaltene Darstellung der Erde in Kugelgestalt, entstanden zwischen 1491 und 1494, galt einst als Monument der europäischen Endeckerfähigkeit. "Heute müssen wir auch über Kolonialismus, Sklavenhandel und Globalisierung reden", sagt Hess. Der Globus - noch ohne Amerika - war bereits 1492 überholt, als Christoph Kolumbus diesen Kontinent entdeckte. "Bleibt die Frage, warum zählt diese wissenschaftliche Fehlleistung zu unseren besten Kulturgütern?"

Abgesehen von der Suche nach Antworten auf diese und ähnliche Fragen hat Hess noch jede Menge andere, ganz reale Baustellen. Gerade entsteht das Tiefdepot, fünf Geschoße, die ins Erdinnere ragen. Mitte 2021 sollen die ersten Objekte einziehen. Auch die Spätmittelaltersammlung wird in drei Abschnitten umgebaut. Der erste Teil, die Mittelalterhalle, eröffnet 2022, dann folgt der Umbau der anderen Bereiche der spätmittelalterlichen Dauerausstellung sowie der sogenannte Süd-Südwestbau. Für den Herbst 2020 ist die Wiedereröffnung der Handwerks- und Medizingeschichte geplant.

Germanisches Nationalmuseum

Ins Tiefdepot sollen 2021 die ersten Objekte einziehen.

(Foto: FloKutzerNuernberg; Germanisches Nationalmuseum)

"Langweilig wird uns nicht", sagt Hess und schwärmt von der Neukonzeption des Spätmittelalters, in die er frühzeitig auch die praxisorientierten "Kunstvermittler" eingeschaltet hat. Das änderte zwar an der Ordnung nach Epochen oder Schulen nichts, aber sie sorgten dafür, dass in die Systematik der Kunsthistoriker mehr Narrative eingebaut, die Abfolgen neu gestaltet, die Objektwahl verändert wurden. Hess fragte auch die Besucher - 326 000 waren es im Vorjahr -, welche Themen aus dem Mittelalter sie am meisten interessierten. Das Rennen machte vor Krieg, Glaube, Geldwesen und Handel der ganz normale Alltag, der nun mit Objekten aus verschiedensten Sammlungsbereichen illustriert wird. Entstehen soll eine Mischung aus analogem und digitalen Museum mit einem "unglaublichen Potenzial an Erzählungen" (Hess). Neu und inklusiv konzipiert ist auch der Medienguide, der in 60 Minuten einen Streifzug durch 600 000 Jahre Kulturgeschichte bietet. Auch diese Tour wurde erst mit den Besuchern erprobt. "Das brachte eine eklatante Steigerung an Verständlichkeit."

Schon klar: Hess hat etwas gegen das Poeta-doctus-Gehabe mancher Kunsthistoriker. "Dass ein hoch angesehener Wissenschaftler auch ein allgemein verständliches Buch schreibt, das gibt es bei uns noch recht selten."

Wichtig ist ihm in seinen Programmen auch kulturelle Diversität. 49 Prozent der Nürnberger hätten einen Migrationshintergrund, sagt er. "Die Gesellschaft vergisst sehr schnell, dass wir auch mal Wirtschaftsflüchtlinge waren." Mit ein Grund, warum das Museum im Herbst 2020 das dritte "Global Art Festival" ausrichten will, das bislang auf dem AEG-Gelände stattfand. Dafür hat das GNM 65 Objekte ausgesucht, die Künstler aus aller Welt zu eigenen Werken inspirieren sollen. Beispielsweise ein Astrolabium aus dem 11. Jahrhundert, jene antike Scheibe zur Verortung von Sternen und Planeten, die jahrhundertelang zur Vermessung des Weltalls diente. Oder ein Reliquien-Ostensorium aus dem 14. Jahrhundert. Ein geschnittener, ägyptischer Bergkristall mit arabischer Inschrift umgibt das in Venedig gefertigte Gefäß. Ein Beispiel für kulturellen Austausch und für Unterwerfung, denn in Venedig wurde auf den Kristall ein Kreuz gesetzt. Auch das Schachspiel aus dem Osmanischen Reich des 9. Jahrhundert belegt, dass arabisch-islamische Kunst einen wesentlichen Bestandteil der europäischen Kultur bildete.

Gerade ist Hess dabei, eine Ausstellung über "Europa auf Kur" zu planen. Ernst Ludwig Kirchner, Thomas Mann und der Mythos Davos spielen darin die Hauptrolle. Auf die Idee brachte ihn nicht das Coronavirus, sondern die anhaltende Krise, in der Europa seit Längerem steckt. Aber erst soll am 2. Juli eine große monografische Schau zu Leben und Werk des Nürnbergers Hans Hoffmann (1530 - 1591/2) eröffnen. Der Kunstberater von Kaiser Rudolf II. verstand es, Dürers Werke täuschend echt zu kopieren. Eine zweite Sonderausstellung widmet sich von 3. Dezember an unter dem Titel "Zeichen der Zukunft" Methoden der Wahrsagerei.

Kulturschätze: Daniel Hess, Generaldirektor des Germanischen Nationalmuseums, hofft, die große monografische Schau, die erstmals das Werk Hans Hoffmanns thematisiert, am 2. Juli eröffnen zu können.

Daniel Hess, Generaldirektor des Germanischen Nationalmuseums, hofft, die große monografische Schau, die erstmals das Werk Hans Hoffmanns thematisiert, am 2. Juli eröffnen zu können.

(Foto: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg)

Alle Ausstellungen stellten sich der Herausforderung, den Wert von Geschichte und Vergangenheit deutlich zu machen, sagt Hess. Im Moment gehe es ständig bloß um die Frage, was man dazu beitragen könne, die Zukunft besser zu gestalten, in dem man CO₂ reduziere oder Impfstoffe entwickle. "Uns Geisteswissenschaftlern ist es noch nicht gelungen, unsere gesellschaftliche Relevanz deutlich zu machen", glaubt Hess. Handel, Austausch, Wissenschaft gründeten in der Kultur, die die Identität eines Landes speise. "Technisch-medizinische Neuerungen nutzen nichts, wenn die Gesellschaft aufgrund religiöser Konflikte auseinanderbricht."

Über dem Ikebana-Gesteck hängt eine Kalligrafie mit japanischen Schriftzeichen. Ihre Bedeutung? "Stärke" sagt Hess und erzählt von seinen Versuchen, mit einem einzigen fließenden Pinselstrich ein Ensõ zu malen, jenen Kreis, der im Zen-Buddhismus Erleuchtung und Eleganz symbolisiert. Und der sich, einmal gezogen, nicht mehr abändern lässt, sondern den Zustand des Geistes im Augenblick des Erschaffens offenbart. "Da kniet man sich hin und hat schon zehn Fehler gemacht", sagt Hess. Es sei unglaublich schwierig, diese einfache Bewegungsabfolge wahrzunehmen und wiederzugeben. "Ich bleibe vermutlich mein ganzes Leben lang ein Lernender."

Keine schlechte Haltung für einen Generaldirektor, der sich als unverbesserlichen Optimisten bezeichnet. Und die Corona-Krise als eine Herausforderung, die es zu meistern gilt. Die menschliche Existenz sei fragil und immer bedroht, das werde jetzt vielen erst klar. "Aber genau deshalb ist Kunst entstanden."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: