Kulturleben in der Corona-Krise:Aufzeichnen statt absagen

Immer mehr Konzerte werden ohne Publikum, allein für die Kamera gespielt. Das verändert die Ästhetik des Musizierens. Dahinter stecken aber auch finanzielle Gründe

Von Rita Argauer

Fünf Musiker sitzen im Schwere Reiter, mit viel Abstand in einem Stuhlkreis. Sechs Stühle stehen da. Dirigent Armando Merino steht in der Mitte. Auf dem sechsten Stuhl sitzt ein Tablet-Computer. Darauf ist per Video die brasilianische Komponistin Michelle Agnes Magalhães zugeschaltet. Sie hat vier der Stücke geschrieben, die hier am Wochenende geprobt und aufgezeichnet wurden. Das Münchner Ensemble Gelber Klang, das dieses Programm eigentlich live aufführen wollte, hat sich entschieden, trotzdem zu spielen. Ohne Publikum. Für die Kamera. Ein Geisterkonzert. Das sei besser als absagen, da sind sich Merino und Markus Elsner, der künstlerische Manager des Ensembles, einig. Sie sind stolz auf das Programm, für das auch die Sängerin Salome Kammer gewonnen werden konnte.

Diese ist beim ersten Teil der Probe noch nicht anwesend. Dafür die Komponistin. Es ist rührend, wie sehr sie als Tablet-Stuhl teil dieser Gruppe ist. Man redet mit ihm, respektive ihr, sie spricht zurück. Fragen werden gestellt, und der Dirigent Merino trägt sie zu den jeweiligen Musikern, die ihr dann etwas vorspielen. "Soll die Harfe weicher oder härter klingen", will die Harfenistin Anna Viechtl wissen. Merino läuft zum Michelle-Stuhl, geht in die Hocke, um auf Augenhöhe mit dem Tablet zu sein und bringt es schließlich zur Harfe, damit die Komponistin am anderen Ende Welt besser hören kann. Irgendwann ruft sie: "Es wäre so viel schöner, wenn ich da sein könnte und wir danach noch ein Bier gemeinsam trinken könnten."

Schwere Reiter, Der gelbe Klang

Musizieren für den leeren Raum: Dirigent Armando Merino und Salome Kammer.

(Foto: dergelbeklang.de/Astrid Ackermann)

Ja, die Sehnsucht nach normaler Zwischenmenschlichkeit abseits des eigenen Haushalts bricht immer wieder durch. Trotzdem überwiegt auch bei der Komponistin Magalhães eine gewisse Dankbarkeit, dass das Ganze hier überhaupt stattfindet. Obwohl sie durch das Tablet-Mikrofon nicht viele Details ihrer teils filigran von Geräuschen getragenen Musik hört: "Das ist total neu für mich", sagt die 1979 geborene Musikerin, die in ihrem Zimmer neben einem großen alten Klavier sitzt. Aber sie sei froh, dass es die Technik gibt. "Es ist wichtig, zusammenzubleiben." Darin sehe sie auch ihre Rolle bei der Probe hier: "Einfach anwesend sein."

Die erste Woche im November wäre die Musik-Woche im Schwere Reiter gewesen. In dieser Münchner Off-Location auf dem Kreativquartier an der Dachauerstraße findet Tanz, Theater und Musik statt. Die Tanzprogramme konnte vergangene Woche noch ein Publikum live erleben, Musik fällt in die erste Lockdown-Woche. Zuerst habe sie einfach gar nichts machen wollen, sagt Christiane Böhnke-Geisse, die für die Musikplanung dort verantwortlich ist. Mehr oder weniger von den Künstlern sei sie dann motiviert worden, zwei der Konzerte doch stattfinden zu lassen, erzählt sie. Das hat auch organisatorische Gründe: Etwa, ob man die Förderung für ein Programm mit ins nächste Jahr nehmen könne oder nicht. Wobei man nicht weiß, wie es da sein wird. "Das ist ja auch eine Lebensübung, nicht zu wissen, was im Januar ist", sagt Böhnke-Geisse. Und dementsprechend wirkt sie dann auch ganz gut gelaunt an diesem Samstagnachmittag. Gerade laufe ja auch das Jazzfest Berlin, erzählt sie: "Alles online, aber tollste Musik." Nächstes Jahr will sie hinfahren. Aber trotz des Wunsches nach Live-Erlebnissen, wird all das auch normal. Langsam aber stetig ist es nicht mehr seltsam und nicht mehr außergewöhnlich, den Computer an Fernseher und Stereoanlage anzuschließen anstatt in ein Konzert zu gehen.

Schwere Reiter, Gelbe Klang

Die Kamera samt Techniker wird beim Geisterkonzert zum Fenster zur Welt.

(Foto: KLANGWORK/Birgit Chlupacek)

Das SZ-Festival "Sound of Munich Now" für die aktuelle Münchner Popmusik findet etwa gerade in ganz ähnlicher Form statt: Die Konzerte wurden im September aufgezeichnet, dann professionell geschnitten und gemischt, und werden nun nach und nach online gestellt. Der Live-Moment tritt dabei in den Hintergrund und muss auch gar nicht mehr suggeriert werden. Der Stream muss nicht gleichzeitig mit dem tatsächlichen Geschehen stattfinden. Wichtiger ist eine gute Aufbereitung der Aufzeichnung - guter Klang und gute Bilder stehen im Fokus.

So ist das dann bei der Aufnahme im Schwere Reiter auch. Der Übergang von Probe zu Konzert geschieht ohne Pause, Record und los. Salome Kammer ist dabei, sie singt Magalhães' "4 Canciones españolas" von 2016. Vier Lieder für Harfe, Cello, Bratsche, Flöte und Bassklarinette. Tolle, wilde Stücke, voller zersplitterter Folklore, voller Emotion, trotz musikalischer Abstraktion. Das Ende von Stück drei, die mit Korken und Alufolie präparierte Harfe klingt hier gleichzeitig wie ein Schlagzeug und eine spanische Rhythmusgitarre, will nicht ganz hinhauen. "Kann man da schneiden?", fragt Kammer in Richtung Technik. "Ja, können wir." Sie setzen von der Hälfte des Stücks noch einmal neu an.

Schwere Reiter, Der gelbe Klang

Auch Cellistin Katerina Giannitsioti spielt vor leeren Sitzen.

(Foto: dergelbeklang.de/Astrid Ackermann)

Hier, wie auch bei "Sound of Munich Now", entstehen formale Hybride zwischen Studioaufnahme und Live-Konzert. Mit der perfektionierten Technik einer Situation im Aufnahme-Studio und den Bildern eines Live-Konzerts. Beim Ensemble Gelber Klang stecken dahinter auch wieder organisatorische Gründe. "Man muss auch immer fragen, was mit den Finanzierungen der Konzerte ist", erklärt Manager Elsner. Hier sei es etwa so, dass die Musiker des Ensembles nur bezahlt werden können, wenn sie auch spielen; wenn also die Leistung, die gefördert wurde, auch erbracht werde. Ob live oder für die Kamera, ist da egal. Darin liegt dann auch einer der Hauptgründe, jetzt zu spielen. Denn bei aller Technik und bei allem, was möglich ist - natürlich treten sie lieber für ein Publikum auf, sagt Dirigent Merino. Vielleicht können sie das Programm im nächsten Jahr wiederholen, etwa bei einem Festival. Ein ausgesprochen gutes Bewerbungsvideo dafür haben sie ja jetzt.

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