Kultureller Niedergang vor dem Ersten Weltkrieg:München, die "eigentlich dumme Stadt"

Der Erste Weltkrieg hat das Klima in München vergiftet. Das beklagte nicht nur der Schriftsteller Thomas Mann. Wie aus dem Zentrum der Bohème ein Sammelbecken für rechtsextreme Republikfeinde wurde.

Von Wolfgang Görl

Bayern und der Erste Weltkrieg

Bayerische Soldaten bei der Mobilmachung im August 1914.

(Foto: dpa)

"Kampf um München als Kulturzentrum" - unter diesem Titel veranstaltete die Deutsche Demokratische Partei am 30. November 1926 eine Kundgebung in der Münchner Tonhalle, bei der Thomas Mann eine Rede über den kulturellen Niedergang der bayerischen Hauptstadt hielt.

Dabei erinnerte der Schriftsteller an die gerade mal zwei Jahrzehnte zurückliegende Glanzzeit Münchens, als Schwabing das Zentrum der künstlerischen Avantgarde war, ein jedem Genie und jedem Verrückten offenstehendes Experimentierfeld der Kunst und des Lebens. "Erinnern wir uns", sprach Thomas Mann, "wie es in München war vorzeiten, an seine Atmosphäre, die sich von der Berlins so charakteristisch unterschied! Es war eine Atmosphäre der Menschlichkeit, des duldsamen Individualismus, der Maskenfreiheit sozusagen; eine Atmosphäre von heiterer Sinnlichkeit, von Künstlertum (. . .) Hier genoß man einer heiteren Humanität, während die harte Luft der Weltstadt im Norden einer gewissen Menschenfeindlichkeit nicht entbehrte."

Einst Künstlerstadt, jetzt Hort des Ungeistes

Doch inzwischen habe sich das Verhältnis beinahe umgekehrt: "Wir mussten es erleben, daß München in Deutschland und darüber hinaus als Hort der Reaktion, als Sitz aller Verstocktheit und Widerspenstigkeit gegen den Willen der Zeit verschrien war, mußten hören, daß man es eine dumme, die eigentlich dumme Stadt nannte."

Was für ein Abstieg! Aus dem Experimentierfeld der Künstler war ein Experimentierfeld finsterer politischer Kräfte geworden. Im ehedem heiter sinnlichen München herrschte nun ein ins Barbarische driftender Ungeist, der sich aus Nationalismus, Antisemitismus, Antiintellektualismus und dem Ressentiment gegen Aufklärung, Humanismus und Demokratie speiste.

Mitte der Zwanzigerjahre, als Thomas Mann seine traurige Bilanz zog, war München auf halbem Weg von der Hauptstadt der Boheme zur Hauptstadt der Bewegung. Drei Jahre zurück lag Hitlers blutig gescheiterter Versuch, vom Bürgerbräukeller aus die Macht zu erobern - eine Farce, der Jahre später die Tragödie folgen sollte.

In der Prinzregentenzeit vertieften sich schon die Gegensätze

Wie aber konnte es dazu kommen? Was war passiert, dass sich die "schöne, behagliche Stadt" (Lion Feuchtwanger) mit Hurra dem geistigen und moralischen Verfall auslieferte? Um dies zu beantworten, lohnt es sich, etwas weiter zurückzublicken. Auf das München der Vorkriegsjahre, auf die Prinzregentenzeit, die bis heute als die "guade, oide Zeit" verklärt wird.

26 Jahre, von 1886 bis zu seinem Tod 1912, währte die Herrschaft des Prinzregenten Luitpold, und je düsterer die folgenden Zeiten wurden, desto heller leuchtete die Ära dieses wie ein gütiger Großvater wirkenden Mannes. Ausgeblendet war in der Retrospektive der ungeheure ökonomische Wandel, der das bis dahin bäuerlich geprägte Königreich ergriffen hatte. War Bayern bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen ein Agrarstaat, geriet das Land in der zweiten Hälfte des Säkulums in den Sog der Industrialisierung.

In der Regel waren es die Städte, in denen sich neue Unternehmen ansiedelten und das althergebrachte Gefüge brüchig wurde. Dabei vertieften sich die Gegensätze zwischen dem konservativen Milieu und der liberalen Minderheit, die in den traditionellen Strukturen ein Hindernis für ihre unternehmerischen Interessen sah. Als dritter Kombattant kam die Arbeiterbewegung hinzu, die gegen die oft desaströsen Zustände in den Betrieben kämpfte, observiert und drangsaliert von Polizei und Justiz.

Radikalisierung auf beiden Seiten

Wie nachhaltig sich das Leben der Menschen veränderte, zeigt der Blick auf München. Die behäbige Residenzstadt verwandelte sich innerhalb weniger Jahrzehnte in ein betriebsames Wirtschafts- und Verwaltungszentrum. Als Luitpold die Regentschaft antrat, zählte die Stadt 262 000 Einwohner. In Luitpolds Todesjahr 1912 lebten bereits 640 000 Menschen in München.

Aus den ländlichen Regionen waren sie in die Stadt geströmt, und wer nicht in den elenden Herbergsvierteln strandete, hauste in den Mietskasernen, die für das Proletariat aus dem Boden gestampft worden waren. 1895 zählten 47 Prozent der Münchner zur Arbeiterklasse. Die Löhne waren mies, sie reichten kaum, die Familie zu ernähren und die Wohnung zu bezahlen. Die sozialen Spannungen wuchsen im bis dahin unbekannten Ausmaß und führten zur Radikalisierung auf beiden Seiten.

"In Wirklichkeit war die Prinzregenten-Ära eine Zeit sich verschärfender sozialer Disharmonie und wachsender politischer Spannungen", schreibt der Historiker David Clay Large in seinem Buch "Hitlers München". Auch die Künstler und Intellektuellen waren davon berührt, zumal die besten unter ihnen schon frühzeitig gespürt hatten, dass die Verheißungen der Aufklärung und der Französischen Revolution in der harten Wirklichkeit des Industriezeitalters zu Worthülsen verkamen.

Rassismus hieß die dunkle Seite der Boheme

In Schwabing flossen alle möglichen geistigen Strömungen der Zeit zusammen, sowohl Vernunft als auch Wahnwitz fanden Widerhall in der Boheme. Diverse Obskurantisten und von Blut, Boden und dunklen Mächten schwafelnde Heilsbringer schwirrten durch Kneipen und Salons, wo sie sich im Gefolge Nietzsches, aber ohne dessen Genialität, als Vernunftzertrümmerer inszenierten.

Wer sich als tiefgründiger Seher empfehlen wollte, erging sich in Phantasien über dionysisch-ekstatische Kulte, tastete in den Urgründen des Seins nach dem Eigentlichen und beschwor kosmische Energien. Die "Kosmiker" Alfred Schuler und Ludwig Klages etwa predigten einen elitären Ästhetizismus, der in einen Kult des arisch-germanischen "Bluterbes" mündete.

Das war die dunkle Seite der Boheme: Der Rassismus als intellektuelles Spiel, als geistige Möglichkeit, die der Tat harrte. Im fiebrig-überdrehten "Wahnmoching" waren eben nicht nur die großen Avantgarde-Künstler zu Hause, sondern auch Scharlatane, die über Ariertum und jüdische Weltverschwörung schwadronierten, in der Pose eines die blasse Vernunft überwindenden Künstler-Philosophen. Antisemitismus und Rassismus im Gewand kulturphilosophischer Theorie gehörten zum Repertoire eines zivilisationsmüden Irrationalismus, der in München einen guten Boden hatte, als Hitler 1913 in der Stadt erschien.

Die Münchner bejubelten den Beginn des Ersten Weltkriegs

Die Judenhasser aus dem kleinbürgerlichen Milieu, die später dem Führer hinterherliefen, dürften diese literarische Spielart des Antisemitismus jedoch kaum zur Kenntnis genommen haben. Sie sammelten sich eher in der 1891 gegründeten antisemitischen Gruppierung Deutsch-Sozialer Verein (DSV), deren Chefpropagandist Viktor Hugo Welcker gegen die "internationale jüdische Börsenpumpe" wetterte. Rassismus sowie einen extremen Nationalismus pflegte auch die Münchner Ortsgruppe des Alldeutschen Verbands, dessen deutsch-nationales Programm im Gegensatz zu den konservativen bayerisch-katholischen Parteien stand, die an die antipreußischen Ressentiments der Einheimischen appellierten.

Die "Atmosphäre der Menschlichkeit, des duldsamen Individualismus", von der Thomas Mann 1926 schwärmte, war schon vor dem Ausbruch des Krieges keineswegs ungetrübt. Die "dionysische Behaglichkeit" hatte bereits in der Prinzregentenzeit ihre Unschuld verloren. Und wie in fast allen europäischen Großstädten bejubelten die Menschen auch in München den Kriegsbeginn.

Die Monarchie hatte abgewirtschaftet

Ermordungsstelle Kurt Eisners, 1919

Schaulustige stehen an der Stelle, an der Kurt Eisner von Graf Anton von Arco-Valley erschossen wurde.

(Foto: Staatsbibliothek München/Fotoarchiv Hoffmann)

Die Begeisterung legte sich, als die ersten Verwundetentransporte am Hauptbahnhof ankamen. Und es wurde immer schlimmer: Bis zum Sommer 1918 waren 13 725 Münchner im Krieg gefallen. Zu diesem Zeitpunkt glaubten nur noch wenige den Parolen vom baldigen Sieg, das Vertrauen in den ohnehin nicht sonderlich beliebten König Ludwig III. war dahin, die Monarchie hatte abgewirtschaftet. Kampflos ergab sie sich den Revolutionären um Kurt Eisner.

Doch Frieden kehrte nicht ein. Eisner wurde von einem völkisch-nationalistischen Offizier ermordet, die daraufhin ausgerufene Räterepublik erlag den Angriffen von Reichswehr und Freikorps. Es folgte ein Massaker, eine Blutorgie der Sieger. Wer auch nur im Verdacht stand, ein Roter zu sein, wurde gnadenlos niedergemetzelt. Vermutlich fielen mehr als tausend Menschen dem weißen Terror zum Opfer.

Aus gesellschaftlichen Brüchen wurden Gräben

Der Krieg hatte die Menschen traumatisiert, die Soldaten, die zurückgekehrt waren, hatten Zehntausende sterben sehen. Sie waren gewohnt, dass ein Menschenleben nichts galt. Für Moral, für Humanismus, für Zivilisation war da kein Platz. Diese Lehre haben viele der von den Schlachtfeldern wiedergekehrten Männer gezogen.

In München hatte der Krieg weitergetobt, mit derselben Unerbittlichkeit. Er war gewissermaßen vor die Haustür gezogen, was der Bevölkerung einen zusätzlichen Schock versetzte. "Das politische Klima hatte sich grundsätzlich gewandelt", schreibt der Historiker Richard Bauer in seiner "Geschichte Münchens". "Das gedemütigte Bürgertum erhob wieder sein Haupt, und eine rechtslastige Justiz rechnete unbarmherzig mit den Anführern des revolutionären Proletariats ab."

Die Bruchstellen in der Gesellschaft, die schon vor dem Krieg den Zusammenhalt gefährdet hatten, waren zu unüberbrückbaren Gräben geworden. Fatal war dies für die Verlierer, die Linke. Anstatt die für ein demokratisches Gemeinwesen unabdingbare Versöhnung anzustreben, tobten die Sieger ihre Rachegelüste aus. Doch war Demokratie auch das Letzte, das die Rechte anstrebte. Was sozialistisch, sozialdemokratisch, jüdisch oder sonst wie verdächtig war, wurde systematisch verteufelt.

"Ordnungszelle Bayern" als Bollwerk gegen Berlin

Verdächtig war nicht zuletzt die Weimarer Republik, deren Politiker als Vaterlandsverräter und jüdische Volksschädlinge diffamiert wurden. Ein Sammelbecken für den militant antisozialistischen und antidemokratischen Geist waren die Einwohnerwehren, die sich nach der Niederschlagung der Revolution gebildet hatten. In ihnen fanden die heimgekehrten Frontsoldaten ein neues Betätigungsfeld. Im Wirrwarr der Nachkriegsjahre wurde für sie das autoritäre Gefüge des Militärs, die unerbittliche Ordnung von Befehl und Gehorsam zum Modell eines funktionierenden Staates - und das desorientierte, verunsicherte Bürgertum folgte ihnen darin.

Die Stunde gehörte Männern wie Gustav von Kahr, der nach dem Scheitern des reaktionären Berliner Kapp-Putsches im März 1920 in Bayern an die Macht gekommen war. Kahr war ein Monarchist, der davon träumte, München zum Ausgangspunkt für die Renaissance der Monarchie in Mitteleuropa zu machen. Er prägte den Begriff der "Ordnungszelle Bayern", die als Bollwerk gegen Berlin dienen sollte, das als Hochburg babylonischer Völkervermischung und zersetzender Avantgardekultur verächtlich gemacht wurde.

Von Bayern aus sollte Deutschland gesunden

Die Diffamierung Berlins und der Republik kam bestens an im München der Zwanzigerjahre. An den Stammtischen ebenso wie in den Salons, an der Universität wie in den Kirchen (die Republik ist "aus der Sünde der Revolution und damit aus dem Fluch geboren", wetterte Erzbischof Michael von Faulhaber) war man sich einig, dass die demokratischen Politiker an allem schuld waren: an der Kapitulation, am Versailler Vertrag, an der Ruhrkrise, an der Hyperinflation, an der Arbeitslosigkeit. Auf dieser Klaviatur spielte auch Gustav von Kahr, und dazu stimmte er den Lobgesang auf die Ordnungszelle Bayern an, von der aus die Gesundung Deutschlands erfolgen sollte.

Wer die sogenannten gesunden Deutschen waren, konnte man in München bald feststellen. Rechtsextreme, Antisemiten, Antidemokraten und Nationalisten aus dem gesamten Reich sammelten sich in der bayerischen Hauptstadt. Hier hatten sie nichts zu befürchten, zumal Polizeipräsident Pöhner, der sich um Recht und Gesetz wenig scherte, seine schützende Hand über die Feinde der Republik legte.

Pöhner protegierte auch die Geheimorganisation "Consul" (OC), die nichts anderes war als eine rechte Terrorgruppe. Und wenn es doch unumgänglich war, einen der rechten Gewalttäter vor Gericht zu stellen, fand er verständnisvolle Richter.

Auftrumpfende Spießigkeit machte sich breit

In dieser Atmosphäre wurde die Ordnungszelle zum Aufmarschgebiet der rechtsextremen Republikfeinde aller Art, während die Künstler und Intellektuellen, die sich der Moderne verpflichtet fühlten, scharenweise die Stadt verließen, mit Vorliebe in Richtung Berlin. Ein aggressiver Provinzialismus, eine auftrumpfende Spießigkeit machte sich breit, von heiterer Humanität war nichts mehr zu spüren. Den Parlamentarismus lächerlich zu machen, gehörte zum Standardprogramm rechter Agitatoren. Statt zu diskutieren, schwang man lieber die Fäuste.

Die Bierkeller wurden zu politischen Bühnen, auf denen strittige Ansichten per Saalschlacht entschieden wurden. Auf dem Gebiet der Ideologie wiederum machte sich die in der Endphase des Krieges gegründete völkisch-antisemitische "Thule-Gesellschaft" daran, mit allerlei okkultistischem Brimborium die nordischen Völker als "Herrenrasse" zu feiern und die Reinheit des Blutes zu propagieren. Einige Thule-Aktivisten spielten später eine wichtige Rolle in der nationalsozialistischen Bewegung.

Beste Bedingungen für die NSDAP

Kahr nutzte die traditionell antipreußische Stimmung in München, um seine Politik gegen Berlin fortzuführen. Der von den Siegermächten und der Reichsregierung geforderten Auflösung der bayerischen Einwohnerwehren stimmte er erst nach langem Sträuben zu. Der zusehends populärer werdende Bierkelleragitator Hitler profitierte von dieser Entwicklung, liefen ihm doch scharenweise neue Anhänger zu.

Die Ordnungszelle bot seiner NSDAP ideale Bedingungen, die Münchner gegen die Weimarer Republik aufzuhetzen und den Antisemitismus anzustacheln. Auch in den besseren Kreisen fand der aufstrebende Demagoge Gehör. In den Häusern des Verlegers Bruckmann, des Pianofabrikanten Bechstein oder des Kunsthändlers Hanfstaengl war er ein gern gesehener Gast, dessen Manieren man noch ein wenig zu verfeinern suchte. Dennoch scheiterte Hitlers erster Anlauf, an die Macht zu kommen, kläglich. Der Putsch vom 9. November 1923 endete in einem Desaster - auch weil Kahr die Gefolgschaft verweigert hatte.

Hitler vergaß das nicht. In der sogenannten Nacht der langen Messer wurde der 71-jährige Ritter von Kahr aus seiner Villa geholt, ins Konzentrationslager Dachau verschleppt und dort zu Tode gefoltert.

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