Süddeutsche Zeitung

Kollektiv "Broke.Today":Den Leerstand für Kreatives nutzen

Eine junge Künstlergruppe zieht von Provisorium zu Provisorium, um kostenlos Kunst zu erschaffen, auszustellen und zu verkaufen. Die Corona-Pandemie kommt ihr quasi zugute.

Von Sophia Kaiser

Eine Galerie in der Kaufingertor Passage. Über zwei Stockwerke verteilt hängen Kunstwerke an den Wänden, stehen auf Staffeleien oder Podesten frei im Raum. Graffiti, Kalligrafie und Malerei sind auf Leinwänden, Glasplatten oder auch Skateboards verewigt, Fotografien, Skulpturen und auch Second-Hand-Kleidung mit Kunst-Touch sind zu sehen, zur Schau gestellt auf Schaufensterpuppen. In der unteren Etage findet sich eine Auswahl an Instrumenten für Bandsessions, die hier ab und an stattfinden.

Dieses bunte Chaos an Kunstwerken und auch der teilweise mit Malervlies ausgelegte Boden unterscheiden die Galerie des Künstlerkollektivs Broke.Today von anderen Galerien. Die Gruppe, bestehend aus 14 zumeist Vollzeit-Künstlern, will Kunst näher an die Menschen bringen und gleichzeitig anderen Künstlern eine Plattform bieten, die kostenlos und für alle zugänglich ist. Seit Juli - auch begünstigt durch die Corona-Pandemie - nutzt das Kollektiv für seine Aktivitäten leer stehende Räume wie die Ladenfläche in der Passage. Deshalb auch das Malervlies: Der Boden soll nicht beschädigt werden. In der Galerie wird Kunst gleichermaßen erschaffen, ausgestellt und verkauft.

Mit Fillin Guas hat alles begonnen. Er hat mit 13 Jahren sein erstes Graffito gesprüht, später folgten dann die ersten richtigen Bilder. Mittlerweile ist er 27 Jahre alt, hat ein Design-Studium und einige Zeit als Freiberufler hinter sich und kann von seinen Bildern und Auftragsarbeiten leben. "Ich weiß, dass das ein krasses Privileg ist", sagt er. "Ich wollte etwas davon weitergeben und einen Ort schaffen für Künstler und Künstlerinnen in München, in dem sie sich kreativ ausleben und sich selbst helfen können mit Kunst." Zusammen mit Ferdinand Schladitz gründete er deshalb 2019 Broke.Today und startete mit einem Atelier im Containerkollektiv am Ostbahnhof.

Dann kam die Corona-Pandemie und spielte den jungen Künstlern sozusagen in die Karten. Zum "normalen" Leerstand in München kamen Nachtclubs dazu, die während und auch nach dem ersten Lockdown keine Partygäste empfangen durften. So wie die 089-Bar am Maximiliansplatz. Statt die leer stehenden Tanzflächen zu akzeptieren, gaben die dortigen Club-Betreiber ihre Räumlichkeiten kurzerhand für die Kunst frei. Den Boden zum Schutz mit Folie, Malervlies und Holzplatten versehen, wurde die 089-Bar im Juli zu einem Open-Studio umfunktioniert. Bis September hatten die Künstler des Kollektivs und Gastkünstler so einen Ort, an dem sie an ihren Kunstwerken arbeiten konnten. Raum geboten wurde jeder Art von Kunst, auch der Musik. So gab es auch immer wieder Live-Sessions im Studio.

Ende September mussten die Künstler raus, konnten aber nahtlos in den Laden in der Kaufingertor Passage umziehen. Neben ihren Arbeiten gibt es hier auch regelmäßig wechselnde Gastaustellungen. Deswegen sehe es hier auch immer anders aus, sagt Fillin Guas. Aufgebaut wurde die Galerie - wie auch davor das Studio in der 089-Bar - komplett ohne Geld, passend zum Namen, der auf Deutsch so viel wie "heute pleite" bedeutet. Die komplette Inneneinrichtung aus Möbeln, Lampen und auch die Instrumente für die Live-Musik sind geliehen, gespendet oder wurden kostenlos übers Internet ergattert. "Das ist eigentlich schon unser Lifestyle geworden. Du brauchst nichts, um deinen Traum zu verfolgen. Wichtig ist nur dranzubleiben", sagt Fillin Guas. Er ist stolz auf sein Projekt und glaubt an seine Vision eines kostenlosen Kreativraums in München.

Weder in der Passage noch in der 089-Bar musste Miete gezahlt werden, die Räumlichkeiten stehen ohnehin leer. Der Schuhladen, der davor die Ladenfläche nutzte, war bereits vor eineinhalb Jahren ausgezogen. Mit ihrer Zwischennutzung wollen die Künstler auf dieses Problem aufmerksam machen. "Die Kaufingertor Passage unterstützt uns dabei, dass wir weiter Kunst machen können. Aber für uns ist das auch ein Statement gegen Leerstand in München. Es wäre viel besser, solche Räume kreativ zu nutzen", findet Fillin Guas.

Ursprünglich hieß es, dass das Kollektiv bis Anfang November in der Kaufingertor Passage bleiben darf, doch nun wurde bis Ende des Monats verlängert; voraussichtlich dürfe man sogar bis Ende des Jahres bleiben, sagt Fillin Guas. Er weiß, dass sie viel Glück hatten. Ohne die Pandemie wären diese Zwischennutzungen vielleicht nie zu Stande gekommen. Dabei sei Kunst gerade in solchen Zeiten so wichtig. "Die Leute brauchen Kunst, und das am besten kostenlos", sagt er. "Wir zeigen hier ja quasi Kunst zum Anfassen", sagt auch Gerald Jegal. Er ist einer der festen Künstler bei Broke.Today. "Es kommen immer wieder Besucher, die sagen, dass sie auch Kunst machen. Die laden wir dann ein, hier vorbeizukommen und sich kreativ auszuleben", erzählt er.

Auch jetzt während der Beschränkungen im November dürfen die Türen zur Galerie offen bleiben, da es sich offiziell um eine Ladenfläche handelt. Geöffnet ist Montag bis Samstag von 13 bis 20 Uhr. Es gilt ein Hygienekonzept mit Maskenpflicht, Desinfektionsmittelstationen und beschränkter Besucheranzahl. Die wöchentlichen Vernissagen müssen ausfallen, und auch die Konzerte der Musiker gibt es vorerst nur noch ohne Live-Publikum. Ab und zu werden sie für die Instagram-Seite (@broke.today) gefilmt.

Wohin das Künstlerkollektiv als nächstes zieht, steht noch offen. Eigentlich seien sie ständig auf der Suche nach geeigneten, leer stehenden Räumen, sagt Fillin Guas.

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Quelle:
SZ vom 16.11.2020
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