Krisenflüchtlinge am Flughafen München:"Alles ist besser als zurückgehen"

Wie Tom Hanks in dem Film "The Terminal": Eine griechisch-bulgarische Familie sieht in ihrer Heimat keine Chance mehr und wohnt seit Monaten auf dem Münchner Flughafen. Das Paar und ihr Sohn ernähren sich von Käsesemmeln und versuchen, auf den Wartebänken im Neonlicht einzuschlafen.

Eine Reportage von Laura Meschede

Der Junge sieht verschlafen von seiner Wartebank auf. Er trägt eine lässige Sportjacke. Mit seinen kurzen braunen Haaren könnte er eigentlich einer sein, der auf den nächsten Flug wartet, einer von vielen Menschen am Münchner Flughafen, die auf der Durchreise mal kurz eingenickt sind. Nur an seinem verquollenen Blick und den tiefen Augenringen lässt sich erkennen, dass er nicht ein normaler Passagier ist, der auf die Ankunft seines Fliegers wartet.

"Die letzten Tage waren schrecklich", sagt er, "das ist kein Leben. Ich will einfach nur weg von hier."

Der Junge heißt Nikola und wohnt am Flughafen München. Seit mehr als fünf Wochen inzwischen. Dort, auf den Wartebänken vor dem Schalter der Firma aerogate, auf denen Businessleute und Urlauber auf den Check-In warten, lebt er mit Mutter Albena und ihrem Freund Athanasios und wartet. Worauf, das weiß die Familie inzwischen selbst nicht mehr so genau.

Albena und Athanasios sind schon länger hier, vor einem halben Jahr kamen sie am Flughafen München an, in der Hoffnung auf ein besseres Leben, eine Wohnung, einen Job. Vor fünf Wochen mussten sie Nikola aus Bulgarien dazuholen, seine Großmutter, die sich dort um ihn gekümmert hatte: Sie konnte seinen Unterhalt nicht mehr bezahlen. Seitdem lebt Nikola ebenfalls am Flughafen.

"Am meisten setzt mir der fehlende Schlaf zu", sagt er. "Jede Nacht werden wir von Sicherheitsleuten geweckt, die unsere Ausweise sehen wollen." Wie ein bequemer Schlafplatz sieht die Wartehalle in der Tat nicht aus: Das Licht ist grell und wird auch in der Nacht nicht gelöscht, alle paar Minuten laufen gehetzte Urlauber vorbei und unterhalten sich lautstark. Und dann ist da noch die ständige Angst um ihr Gepäck.

Die drei Koffer, die sie auf typischen Flughafen-Rollwägen stets mit sich herumschieben, beherbergen ihr gesamtes Hab und Gut: ihre Papiere, die Klamotten und die aufgeschwemmten Brötchen mit Billigkäse, von denen sie sich fast ausschließlich ernähren. Zurück nach Griechenland wollen sie trotzdem nicht: "Alles ist besser als zurückgehen", sagt Athanasios. "In unseren Heimatländern haben wir überhaupt keine Chance."

Vor zwanzig Jahren sah die Lage für Athanasios noch ganz anders aus. Der gebürtige Grieche arbeitete damals in Thessaloniki als DJ für einen bekannten Radiosender und besaß seinen eigenen Club. Doch dann wurden die Zeiten schwieriger. Er musste seinen Club verkaufen und als Obstverkäufer arbeiten. Vor knapp fünf Jahren lernte er Albena kennen, die aus Bulgarien zum Arbeiten nach Thessaloniki gekommen war, und verliebte sich in sie. Kurz darauf beschloss er das erste Mal, sein Glück in Deutschland zu versuchen.

Angst vor dem Trauma

Athanasios spricht in gebrochenem Englisch, immer wieder lässt er Wörter auf Deutsch einfließen, die er in den vergangenen Jahren aufgeschnappt hat. Er gestikuliert viel, besonders wenn es um Themen geht, die ihm am Herzen liegen, aber wer würde in seiner Lage schon ruhig bleiben.

Dreimal ist er in den vergangenen vier Jahren nach Deutschland gekommen, immer wieder auf der Suche nach Arbeit als Koch in griechischen Restaurants. Doch mit der Krise veränderte sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt. In Griechenland stieg die Arbeitslosigkeit auf knapp 20 Prozent an, immer mehr Griechen zogen nach Deutschland, um der prekären Lage in ihrem Heimatland zu entfliehen.

Statistiken zufolge stieg die Anzahl der griechischen Zuwanderer im Jahr 2011 um fast 90 Prozent an, und Athanasios Chancen, eine Anstellung zu finden, sanken rapide. Auch Albena, die vor knapp einem Jahr gemeinsam mit Athanasios nach Deutschland gekommen war, hatte Schwierigkeiten, eine Arbeit zu finden. Sie nahmen jeden Job, den sie bekamen, putzen, spülten Teller, sammelten Flaschen.

Im Februar dieses Jahres kamen sie schließlich an den Flughafen München - und beschlossen, fürs Erste zu bleiben. "Hier ist es besser als an anderen Flughäfen", sagt Athanasios "Hier kann man Flaschen sammeln, ohne rausgeworfen zu werden."

Das Flughafenpersonal weiß von ihrer Anwesenheit, doch es drückt ein Auge zu, auch wenn der dauerhafte Aufenthalt am Flughafen eigentlich nicht erlaubt ist, wie ein Sprecher bestätigt. Einmal brachte ihnen eine Angestellte einen kleinen Präsentkorb mit Keksen und Flughafenessen.

Trotzdem: Jeder andere Ort wäre ihnen lieber als der Flughafen. Die Wartebänke sind hart, die Duschen öffentlich und teuer. Von der fehlenden Privatsphäre gar nicht zu sprechen. Und hinzu kommt die Sorge um Nikola, die Angst, ihn vollkommen zu traumatisieren. "Das hier ist kein Ort für einen 15-Jährigen", sagt Athanasios. "Selbst wenn wir eine Arbeit finden sollten, was passiert dann mit ihm? Wir können ihn doch nicht mit all dem Gepäck allein am Flughafen lassen."

Kein Geld für Medikamente

Was sie bräuchten, das wiederholt er immer wieder, wäre eine Wohnung, und sei es nur für kurze Zeit. "Wir wollen nichts umsonst. Ich würde Miete und Kaution zahlen, sobald ich eine Arbeit gefunden habe." Denn ohne einen festen Wohnsitz bleibt das Dilemma: Ohne Wohnung können sie keine sozialversicherungspflichtige Arbeit bekommen, ohne Arbeit keine Wohnung bezahlen.

Auch Plätze in Sozialwohnheimen sind für sie nahezu unerreichbar. "Bulgaren nehmen wir nicht auf", diesen Satz haben sie gehört, als sie bei einer Obdachlosenhilfe ganz in der Nähe vorsprachen. Auf Nachfrage der Süddeutschen Zeitung reagiert die Herberge ausweichend. Man wisse selbst nicht so genau, wie das geregelt sei, sagt ein Mitarbeiter. Es sei ein latenter Rassismus, der ihnen auf ihrer Suche immer wieder entgegenschlägt, so erzählt es Athanasios. Im städtischen Unterkunftsheim an der Pilgersheimer Straße wurden sie weggeschickt. Bei EU-Bürgern geht die Stadt davon aus, dass sie keinen Anspruch auf Notunterbringung haben, weil sie noch Wohnraum in ihrem Heimatland haben, also dort nicht wohnungslos sind. So gibt es dann für Mittellose ein Ticket für die Rückreise.

Wo auch immer die Familie hinkommt: Die Ämter fühlen sich erst mal nicht zuständig. Sie schicken die Familie weiter, nach Freising, Höllriegelskreuth, in die Münchner Innenstadt. "Wir waren schon in so vielen Ämtern, dass ich sie nicht mehr zählen kann", sagt Athanasios. "Inzwischen haben wir es fast schon aufgegeben."

Denn die Stellen sitzen in verschiedenen Teilen Münchens - und der Weg dahin ist teuer. Immer wenn sie an ein neues Amt verwiesen wurden, muss die Familie tagelang Flaschen sammeln, um sich die Fahrkarte dorthin leisten zu können. 20 Euro kostet die Partner-Tageskarte für das Münchner Gesamtnetz - das sind mehr als 100 Flaschen. Was die Enttäuschung, wenn die neue Stelle sie wieder nur weiterverweist, noch erhöht. "Ich glaube nicht mehr, dass uns irgendein Amt wirklich weiterhelfen wird", sagt Athanasios. "Aber wir müssen es weiter versuchen. Dem Jungen zuliebe."

Momentan ist Albena krank, sie hat Fieber. Aber Medikamente kann sie sich nicht leisten. Stattdessen sitzt sie, in eine blaue Wolldecke gehüllt, auf ihrer Wartebank und friert. "Einmal musste mir ein Zahn gezogen werden", erzählt sie. "Das konnte ich auch nicht bezahlen." Damals ließ sie ihren Pass bei dem behandelnden Arzt zurück und sammelte so lange Flaschen, bis sie die Kosten von 95 Euro bezahlen und wieder gegen ihren Pass eintauschen konnte. "Warum funktioniert so etwas nicht auch mit Wohnungen?", fragt sie und klingt verzweifelt.

Die blaue Wolldecke, die sie um ihre Schultern gehüllt hat, ist an den Seiten ausgefranst, einen Schlafsack hat sie nicht. Vor ihr steht ein Pappbecher mit schwarzem Kaffee, ein Luxus, den sie sich nur dank einer hilfsbereiten Angestellten des Getränkestandes leisten können. An diesem Abend wird es wieder eine Käsesemmel zu essen geben, genau wie gestern und vorgestern. Kochen am Flughafen ist ausgeschlossen, die meisten anderen Lebensmittel sind schlicht zu teuer.

"Immerhin haben wir etwas zu essen", sagt sie. Ob sie noch Hoffnung auf ein besseres Leben haben? Albena lächelt: "Wir haben ja nichts anderes."

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