Süddeutsche Zeitung

Kriegsverbrecher-Prozess:Späte Suche nach Gerechtigkeit

Am Montag beginnt in München der Prozess gegen den mutmaßlichen Kriegsverbrecher Josef S., der 1944 ein Massaker in Italien befohlen haben soll.

Alexander Krug

Die Bäuerin Maria Bistarelli Casucci hatte mit ihren 74 Jahren keine Chance. Sie versuchte wohl noch zu fliehen, doch sie kam nicht weit. Die Soldaten erschossen sie unweit der Felder, auf denen sie ein Leben lang gearbeitet hatte. Auch der 55-jährige Landarbeiter Santi Lescai, der 39-jährige Angiolo Donate und der 21-jährige Bauernsohn Ferdinando Cannicci wurden einfach dort niedergeknallt, wo man sie erwischte.

Doch das alles reichte den Männern vom Gebirgs-Pionier-Bataillon 818 noch nicht. Nach den Morden trieben sie weitere elf Männer im Alter von 15 bis 74 Jahren zusammen, pferchten sie in das Bauernhaus der Familie Cannicci und sprengten es mit Dynamit in die Luft. Nur der jüngste von ihnen, Gino M., überlebte das Grauen. Er wurde unter einer Trümmerschicht begraben und nach Abrücken der Deutschen von einer Einheimischen gerettet.

Der 27. Juni 1944 ist für Falzano nahe der Kleinstadt Cortona ein Tag des Todes gewesen. Der kleine Weiler in der Toskana existiert heute nicht mehr, an die Geschehnisse von damals erinnern heute nur noch ein schlichtes Kreuz und eine Gedenktafel für die Opfer. Erst jetzt, 64 Jahre später, findet das Massaker an den wehrlosen Zivilisten seine strafrechtliche Aufarbeitung. Am Schwurgericht beginnt am Montag der Prozess gegen den ehemaligen Leutnant der Gebirgspioniere, Josef S., nur wenige Tage nach dessen 90. Geburtstag.

Jahrzehntelang hatte er als geschätzter Bürger in der Gemeinde Ottobrunn gelebt, hatte sich als Gemeinderatsmitglied verdient gemacht und zuletzt sogar die Bürgermedaille überreicht bekommen. Besonders engagiert zeigte sich der weißhaarige Herr, wenn es um alte Kriegserlebnisse ging. Regelmäßig traf er sich mit "Veteranen" in einer Münchner Gaststätte, und auch beim "Traditionstreffen" der Gebirgsjäger auf dem Hohen Brendten bei Mittenwald war er ein oft gesehener Gast.

Was er dort über seine Vergangenheit erzählte, ist nicht bekannt. Josef S. befehligte 1944 die 1. Kompanie des Gebirgs-Pionier-Bataillons 818 mit etwa 220 Mann. Die Einheit hatte den deutschen Rückzug zu sichern. Nach der Landung der Alliierten in Italien versuchten sich die deutschen Truppen auf die sogenannte Gotenlinie zurückzuziehen, die entlang des Apenninhauptkammes verlief. Der Oberbefehlshaber der deutschen Kräfte, Generalfeldmarschall Albert Kesselring, versprach Hitler vollmundig, die Linie bis zum Frühjahr 1946 zu halten. Kesselring war dazu jedes Mittel recht, dazu zählte auch das wahllose Abschlachten von Zivilisten als Vergeltung oder zur Abschreckung.

Die Historiker Gerhard Schreiber und Friedrich Andrae haben schon in den 90er Jahren die "Legende vom unbefleckten Schild der Wehrmacht" (Andrae) in Italien zerstört. Bei ihrem Rückzug, so Schreiber, hätten die deutschen Soldaten eine "breite Blutspur" hinterlassen. Nach seinen Schätzungen wurden nach der Entwaffnung der italienischen Truppen im September 1943 und der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 rund 16600 Zivilisten Opfer deutschen Terrors, darunter 7400 Juden. Etwa 250 Ortsnamen stehen seither in Italien für exzessive Grausamkeiten deutscher Truppen, Andrae nennt sie "Wegmarken einer Verrohung, die nicht erst in Italien zur Bestialität eskalierte".

Der Terror gegen Zivilisten, die angeblich Partisanen unterstützten, hatte System. Schon kurz nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 hatte Hitler in seinem berüchtigten Kommissarbefehl als Sühne für "ein deutsches Soldatenleben" die Todesstrafe für 50 bis 100 "Kommunisten" angeordnet. Ende 1942 bestimmte Hitler im sogenannten Bandenbekämpfungsbefehl das rücksichtslose Vorgehen "auch gegen Frauen und Kinder".

Diese Mordbefehle fanden 1944 auch im ehemals verbündeten Italien ihre Entsprechung. Verantwortlich dafür war Hitlers treuer Gefolgsmann, Albert Kesselring. In einer Vielzahl von Erlassen ermunterte er seine Soldaten zum rigorosen Vorgehen, sicherte ihnen Straffreiheit zu und ordnete schließlich im Juni 1944 explizit bei Attacken gegen deutsche Soldaten die Erschießung "aller männlichen Personen" von mindestens 18 Jahren an.

Die Eskalation der Gewalt durch Kesselrings Befehle war eine Vorbedingung für die Massaker an der Zivilbevölkerung, sie machte den einfachen Soldaten zum Handlanger eines verbrecherischen Krieges. Etwa 80.0000 deutsche Soldaten waren von 1943 bis 1945 in Italien eingesetzt, Josef S. war einer davon. Den Ermittlungen zufolge wurden zwei Soldaten seiner Einheit am 26. Juni 1944 beim Versuch, ein Pferd zu requirieren, aus dem Hinterhalt von Partisanen erschossen.

Die Gebirgspioniere schritten am Tag darauf zur Vergeltung an den Dorfbewohnern, wobei der Anteil von S. unklar ist. Ein Foto von damals, das die Ermittler sicherstellen konnten, zeigt den jungen Leutnant am Grab seiner beiden Kameraden. Die Ankläger sind sicher, ihm in der Befehlskette die Verantwortung für den Mord an den 14 Zivilisten nachweisen zu können. Das ist notwendig, denn S. soll bei der Sprengung der Casa Cannicci nicht am Ort gewesen sein.

Es ist demzufolge ein Prozess mit vielen Unbekannten, was angesichts der vergangenen Zeit nicht verwundert. Das größte Problem der Ermittler bei Kriegsverbrechen ist zunächst einmal die präzise Zuordnung der jeweiligen an den Massakern beteiligten Einheiten. Im zweiten Schritt ist dann die konkrete Identifizierung einzelner Täter gefordert. Über die Jahrzehnte hat sich die deutsche Justiz mit der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen immer schwer getan, und mitunter entstand der Eindruck, man setze lieber auf die "biologische" Lösung, also den Tod der Täter, als die aufwändigen und langwierigen Ermittlungen voranzutreiben.

Auch der Wille zur Strafverfolgung war nicht stark ausgeprägt. Es ist noch nicht lange her, da wurden die Ermittlungen zum größten Massaker der Deutschen an Italienern, die Hinrichtung mehrerer Tausend bereits entwaffneter und wehrloser italienischer Soldaten auf der griechischen Insel Kephallonia, eingestellt. Die Einstellungsverfügung erfolgte durch dieselbe Staatsanwaltschaft, die jetzt Anklage gegen S. erhebt.

Aber auch die Ankläger in anderen Bundesländern glänzen nicht gerade mit zügigen Ermittlungen. So sind die Verantwortlichen für zahllose andere Massaker an Zivilisten in der Toskana, etwa in Marzabotto (770 Tote) oder Sant' Anna di Stazzema (560 Tote) bis heute nicht angeklagt worden - obwohl man ihre Namen kennt.

Aber auch die italienische Justiz hatte jahrzehntelang kein Interesse an der Verfolgung der Täter. Dies änderte sich erst in jüngster Vergangenheit. Inzwischen haben italienische Militärtribunale knapp zwei Dutzend ehemalige deutsche Soldaten verschiedenster Verbände in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt, darunter war 2006 auch Josef S.

Einer der wenigen Versuche von deutscher Seite, die Kriegsverbrechen in Italien strafrechtlich zu ahnden, war die Causa von Friedrich Engel. Sein Fall weist viele Parallelen zum Fall S. auf. Der 1909 geborene Engel war 1944 als SS-Sturmbannführer in Genua eingesetzt, zuständig unter anderem für sogenannte Sühnemaßnahmen.

Nach einem Bombenanschlag italienischer Partisanen auf deutsche Soldaten in einem Kino in Genua mit sechs Toten ließ Engel als Vergeltung in einer abgelegenen Gegend unweit der Stadt 59 italienische Geiseln hinrichten. Jahrzehntelang blieb Engel unbehelligt, bis er schließlich 1999 in Abwesenheit von einem italienischem Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Es dauerte dann nocheinmal drei Jahre, bis das Landgericht Hamburg gegen Engel verhandelte. Im Juli 2002 wurde er wegen Mordes verurteilt. Aufgrund der langen Zeitspanne seit der Tat sahen die Richter aber von einer lebenslangen Haft ab und verhängten sieben Jahre.

Die Verurteilung stieß auf erhebliche Kritik, die angeführt wurde von dem Staatsrechtler und ehemaligen Wissenschaftssenator der Hansestadt, Ingo von Münch. Er warf den Richtern vor, dem "Zeitgeist" gehuldigt zu haben, denn aus juristischer Sicht hätte Engel freigesprochen werden müssen.

Das vom Landgericht zu Grunde gelegte Mordmerkmal der "Grausamkeit" sei nicht hinreichend zu belegen. "Moralisch betrachtet war die Exekution verwerflich, juristisch beurteilt war sie aber kein Mord im Sinne des deutschen Strafrechts", bilanzierte Münch in seinem Buch "Geschichte vor Gericht". Denn sei nicht jeder Krieg per se grausam, sei eine Geiselerschießung als Repressalie nach dem (damals geltenden) Völkerrecht nicht grundsätzlich rechtmäßig gewesen?

Münchs Kritik zielte auf den Kern der Problematik, der nun auch im Fall S. eine zentrale Rolle spielen könnte. Der Münchner Historiker Hans Woller vom Institut für Zeitgeschichte hat in einem Vortrag von einem "juristischen Graubereich" gesprochen, in dem sich die Kriegsverbrecher bewegten.

Denn nach der damals geltenden Haager Landkriegsordnung waren Repressalien gegen die Zivilbevölkerung weder ausdrücklich verboten, noch war der Vollzug in allen Details geregelt. "Geiselerschießungen und Repressaltötungen galten als Teil des internationalen Gewohnheitsrechts und wurden von vielen Völkerrechtlern und kriegsführenden Nationen im Prinzip als nicht illegitim angesehen", bilanziert Woller. Dies habe nach dem Krieg sogar der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg festgestellt.

Könnte sich der mutmaßliche Kriegsverbrecher S. mit Hinweis auf diese Gepflogenheiten aus der Verantwortung stehlen? Zurückhaltung ist angebracht, denn der Bundesgerichtshof (BGH) hat in der Revision des Falles Engel im Juni 2004 ausdrücklich klargestellt, dass die Erschießung der Geiseln als "derart menschenverachtend einzustufen (ist), dass sie nur als rechtswidrig zu werten ist".Die Hinrichtung habe "auch unter Berücksichtigung der Sittenverrohung während des Krieges" eindeutig eine "Humanitätschranke" überschritten.

Das waren deutliche Worte, doch sie blieben ohne Konsequenz. Denn die obersten Richter in Karlsruhe hoben die Verurteilung von Engel auf und entließen ihn in die Freiheit. Das Hamburger Schwurgericht habe das Mordmerkmal der Grausamkeit nicht hinreichend belegt, lautete ihr Hauptvorwurf.

Um das zu verstehen, muss man sich das deutsche Strafrecht vergegenwärtigen. Der einschlägige Paragraph 211 des StGB verlangt, dass Mordmerkmale sowohl objektiv als auch subjektiv erfüllt sein müssen. Es genügt also nicht, die offensichtliche Grausamkeit der Tat festzustellen. Vielmehr muss dem Täter eine rohe und unbarmherzige Gesinnung sozusagen als innere Motivation nachgewiesen werden.

Beim SS-Mann, der in einem KZ Menschen zu Tode quält, fällt diese Entscheidung leicht. Wie aber steht es um die Gesinnung eines Wehrmachtssoldaten? Der BGH entschied im Fall Engel, dass sein Verhalten am Streben nach "unbedingter - wenngleich gänzlich kritik- und gewissenloser - Befehlserfüllung" orientiert war. Dies genüge nicht, um das Mordmerkmal der Grausamkeit aus subjektiver Sicht zu erfüllen.

Ganz wohl war den Bundesrichtern bei ihrer Entscheidung, Engel in die Freiheit zu entlassen, aber offensichtlich nicht. Denn sie hielten in ihrem Urteil ausdrücklich fest, dass die Verfahrenseinstellung kein Freispruch sei. Bei "ergänzender" Prüfung des Falles könnte durchaus auch das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe in Betracht kommen. In der Konsequenz hätten die BGH-Richter das Verfahren somit zur abermaligen Prüfung an das Hamburger Landgericht zurückweisen müssen. Doch genau dies taten sie nicht. Sie stellten das Verfahren mit Rücksicht "auf das hohe Alter" des Angeklagten kurzerhand ein.

Auch Josef S. ist hochbetagt, auch bei ihm muss der Mordnachweis erst erbracht werden. Das Münchner Schwurgericht hat vorläufig bis Ende Oktober zehn Verhandlungstage terminiert, Ärzte haben ihm Verhandlungsfähigkeit attestiert. Unter den vielen geladenen Zeugen wird auch Gino M. sein, der als Junge das Massaker in Falzano überlebte.

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SZ vom 13.09.2008
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