Kriegsverbrecher-Prozess:Der alte Mann und der Tod

Eine Ära geht zu Ende: In München beginnt einer der letzten großen NS-Prozesse. Mehr als 10.000 Urteile sind gefallen, doch das Bild, zu dem sich die Verfahren fügen, wirkt kläglich.

Joachim Käppner

Ein Greis steht vor Gericht, 64 Jahre nach den abscheulichen Verbrechen, derer er angeklagt ist. Fast ein Menschenalter sind die Taten her, für die er sich verantworten muss. Taten, welche die meisten Deutschen, wenn überhaupt, nur aus Fernsehberichten kennen, die den Jüngeren unendlich fern vom eigenen Leben erscheinen und die es doch nicht sind: Sie prägen die Gesellschaft bis heute.

Kriegsverbrecher-Prozess: Von Montag an steht der 90-jährige Josef S. (im Bild bei einem Treffen der Gebirgspioniere) wegen 14-fachen Mordes vor Gericht.

Von Montag an steht der 90-jährige Josef S. (im Bild bei einem Treffen der Gebirgspioniere) wegen 14-fachen Mordes vor Gericht.

(Foto: Foto: oh)

An diesem Montag beginnt in München der Prozess gegen den 90-jährigen Josef S., der im Juni 1944 seiner Gebirgs-Pionier-Kompanie in Falzano den Massenmord an italienischen Zivilisten befohlen haben soll. Falzano gibt es nicht mehr, S.blieb Jahrzehnte unbehelligt.

Es ist vielleicht - wahrscheinlich sogar - das letzte größere Verfahren, in dem ein Angeklagter wegen Verbrechen aus der NS-Zeit vor Gericht steht, das letzte von Tausenden seit 1945. Eine Ära geht zu Ende, die Ära der Zeitzeugen, der Opfer wie der Täter und damit auch des Versuchs, dem Zivilisationsbruch so etwas wie Recht und Sühne folgen zu lassen. Mehr als 10.000 Urteile gegen NS-Täter sind in Westdeutschland gefallen, und so beeindruckend die Zahl zunächst wirkt, so kläglich ist das Bild, zu dem sich die Prozesse insgesamt fügen.

Skandalöse Freisprüche, niedrige Strafen, schleppende Ermittlungen

Im Jahr 1946 schon lief in Berliner Kinos Wolfgang Staudtes Film "Die Mörder sind unter uns". Die Mörder waren in der Mitte der Gesellschaft, doch belangt wurden nur wenige von ihnen. Es gab skandalöse Freisprüche, niedrige Strafen, schleppende Ermittlungen, und noch heute kann man sich fragen, warum Wehrmachtsverbrechen in Italien fast nie verfolgt wurden. Entgegen einem verbreiteten antifaschistischen Klischee hat die DDR übrigens nach 1950 fast völlig auf die Verfolgung von NS-Verbrechen verzichtet. Auschwitz galt als alleiniges Problem der Westdeutschen.

Deren Richter hatten lange einen schlechten Ruf. Der Publizist Günther Schwarberg hat die bundesdeutsche Justiz als "die Mörderwaschmaschine" beschimpft. Das Problem waren aber weniger die Richter, auch wenn viele alte Kameraden unter ihnen waren, die gestern noch keine höhere Instanz gekannt hatten als den "Führer".

Das Problem war bis in die siebziger Jahre hinein die Mehrheit der Gesellschaft selbst und ihre Weigerung, sich der Vergangenheit und dem eigenen Versagen zu stellen. Es gab Männer wie den Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, welche die Täter von Auschwitz vor Gericht brachten; und es gab den Bundestag, der anfangs bei den Alliierten um Gnade für die Mörder der SS-Einsatzgruppen bettelte, der so viele Amnestien beschloss und so viele Verjährungen, etwa für die Schreibtischtäter, dass für Anklagen nur das Delikt des nackten Mordes übrig blieb.

Der alte Mann und der Tod

Manche Juristen fragen gar, ob man Adolf Eichmann, den 1961 in Jerusalem hingerichteten Organisator des Holocaust, heute in Deutschland überhaupt verurteilen könnte.

Kriegsverbrecher-Prozess: Ein Gedenkstein erinnert in Falzano an die Opfer des Massakers in der Casa Cannicci.

Ein Gedenkstein erinnert in Falzano an die Opfer des Massakers in der Casa Cannicci.

(Foto: Foto: Müller-Meiningen)

Gerechtigkeit ist auch nach langer Zeit noch möglich

Die Justiz hat es versucht, viel zu spät und viel zu zögerlich; aber es war ein Versuch. Und letztlich hat das, nach dem Nürnberger Prozess 1946, eines gezeigt: Gerechtigkeit ist auch nach langer Zeit noch möglich, und ein Verbrechen von Staats wegen bleibt ein Verbrechen.

Heute gibt es, auch wegen solcher Erkenntnisse, UN-Tribunale und ein erwachendes Völkerrecht. In den späten fünfziger Jahren, als mit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess die NS-Verfahren ernsthaft begannen, war das noch ein ferner Traum.

Nach heutiger Erkenntnis hätten viele zehntausend vor Gericht stehen müssen, wie nach dem Völkermord in Ruanda 1994. Es ist wahr, dass es keine Kollektivschuld gibt, Schuld ist immer eine individuelle Frage. Nur waren sehr viel mehr Menschen mitschuldig, als die Deutschen nach 1945 akzeptieren wollten.

Allein am Holocaust waren Hunderttausende beteiligt; Soldaten, Polizeireservisten, die Zivilverwaltung, Eisenbahner, Bürokraten, denunzierende Nachbarn. Die meisten waren nur kleine Rädchen, und doch waren sie es, welche das Maschinenwerk des Mordes laufen ließen. Eben das zeigt auch das Münchner Verfahren.

Die angeklagten Taten sind unstrittig, und sie waren nicht das Werk enthemmter SS-Sadisten in Auschwitz, sondern der Gebirgstruppe, die sich als soldatische Elite verstand und sich bis heute auf dem jährlichen Treffen am Hohen Brendten als solche feiert.

Was kann man lernen aus dem Münchner Prozess?

Der alte Mann und der Tod: Was kann man lernen aus dem Münchner Prozess, aus dem fernen Widerhall der Schuld? Dass Unrecht schnell geschieht und das Recht mitunter Jahrzehnte braucht, und dass es dennoch stärker ist, wenn man nur will. Der Prozess wird noch einmal zeigen, dass ein Mensch die Verantwortung für seine Taten trägt und sich nicht auf "den Befehl" herausreden kann oder "den Krieg" - als sei der Krieg ein Naturzustand jenseits aller Moral und ein Befehl wichtiger als das Gewissen.

Er wird belegen, wie auch immer das Urteil am Ende lautet, dass diese Gesellschaft nicht nur vom Tyrannen und seinen Henkern beherrscht wurde, sondern von Millionen Menschen, die sich von ihnen in die Pflicht nehmen ließen. Es war ja "die Pflicht", auf die sich so viele Täter nach dem Krieg stets beriefen.

Vielleicht ist diese Erkenntnis, bei allen Mängeln, das größte Verdienst der deutschen Prozesse gegen NS-Täter: Es gibt keine Pflicht, das Böse zu tun.

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