Kommunalwahl in München:"Wir müssen Denkmuster aufbrechen"

Kommunalwahl in München: Fordert eine "Abkehr von der neoliberalen Politik": Thomas Lechner.

Fordert eine "Abkehr von der neoliberalen Politik": Thomas Lechner.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Thomas Lechner kandidiert als Oberbürgermeister für die Linken - ohne Parteibuch, dafür aber mit viel Sinn für Gerechtigkeit. Sein Coming-out in den Achtzigern hat ihn gelehrt, sich nicht entmutigen zu lassen.

Von Wolfgang Görl

Es ist der Tag nach dem Thüringen-Desaster, und vor dem Münchner FDP-Büro in der Goethestraße haben sich einige hundert Menschen versammelt, um, wie es im Aufruf heißt, FDP und CSU aufzufordern, "nicht mit Faschisten zu paktieren". Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, spricht als Erste und verurteilt die "Wahl der Schande"; den aufsehenerregendsten Auftritt aber hat FDP-Stadtrat Thomas Ranft, der gegen seine eigene Partei demonstriert oder zumindest gegen seine Parteifreunde in Thüringen samt Kurzzeit-Ministerpräsident Thomas Kemmerich, dem er "höchst unanständiges" Verhalten attestiert. Wenig später ist Thomas Lechner an der Reihe, der Oberbürgermeister-Kandidat der Linken. Die Abendluft ist kalt, Lechner hat sich in eine dunkle Jacke gehüllt und einen blau-weiß gemusterten Schal um den Hals gewickelt, mit seinen Bartstoppeln und dem leicht strubbeligen Haar entspricht er dem Klischeebild eines Straßenkämpfers.

Auf kleinen, blauen Zetteln hat er ein paar Stichworte gekritzelt, an diesen entlang hangelnd redet er frei, ziemlich schnell, so schnell bisweilen, dass seine Sätze ihre Wirkung gar nicht so recht entfalten können. Lechner fordert, den 8. Mai, den Tag der Kapitulation Nazi-Deutschlands, zum Feiertag zu machen, er spricht über die unerlässliche Verbindung von Demokratie und Menschenrechten und fordert: "Wir müssen zusammenstehen im Kampf gegen Rechts. Jeder muss zur Antifaschistin oder zum Antifaschisten werden." Drei Minuten Sprechzeit hat jeder Redner, hier ist nicht der Ort für politische Grundsatzreferate. Lechner muss sich ohnehin sputen. Gleich beginnt die Podiumsdiskussion der wichtigsten Münchner OB-Kandidaten im Bellevue de Monaco. Da ist er dabei.

"München kann auch anders!" steht auf Lechners Wahlkampf-Flyer, darunter sein Name und einige Angaben zur Person: "Kulturschaffender + OB-Kandidat (parteilos)". Ja, so ist es: Lechner ist kein Mitglied der Linkspartei. Wer ihm zuhört, hat rasch den Eindruck, einen Freigeist vor sich zu haben, der lieber quer und querbeet denkt, als sich von Programmen und Satzungen zügeln zu lassen. Anders gesagt: Als Parteimensch ist er schwer vorstellbar. Dass er politisch irgendwo links unterwegs ist, hat sich trotzdem herumgesprochen, auch bei den Linken. Vor gut einem Jahr, so erzählt er, haben die Linken-Bundestagsabgeordnete Nicole Gohlke und Landessprecher Ates Gürpinar mal vorgefühlt, ob er für eine Kandidatur zu haben wäre. Nach einer Bedenkzeit hat Lechner Ja gesagt, aber nicht ohne Bedingungen: "Mir war ganz wichtig, dass es glaubwürdig sein muss. Ich will nicht das Vorzeigegesicht sein." Das heißt, er wollte schon auch mitreden, als es um Inhalte und Programme ging. "Das haben wir hingekriegt."

Eine halbe Stunde nach der Demo vor der FDP-Zentrale sitzt Lechner auf dem Podium im Bellevue de Monaco, wo er unter anderem auf Katrin Habenschaden von den Grünen und auf Kristina Frank, die OB-Kandidatin der CSU, trifft, nicht aber auf den Titelverteidiger Dieter Reiter (SPD), der sich, weil erkrankt, von der Stadträtin Anne Hübner vertreten lässt. Es geht um soziale Themen, Wohnungsnot, steigende Mieten, Menschen, die sich die Stadt nicht mehr leisten können, und es geht um Flüchtlinge. Lechner verheddert sich anfangs im Allgemeinen, bringt aber bald seine Gedanken in die Spur. Seine Augen leuchten, wenn er daran erinnert, wie die Flüchtenden im Sommer 2015 am Hauptbahnhof ankamen, und wie die Münchner geholfen hätten, während die Behörden noch in Schockstarre gewesen seien. "Die Zivilgesellschaft ist in die Bresche gesprungen", sagt er. Und wenig später: "Es braucht eine Bewegung von unten." Sätze wie diese sind oft von Lechner hören. Sätze, in denen Skepsis über die staatlichen Institutionen ebenso mitschwingt wie das Vertrauen in die Fähigkeiten der Menschen, die Dinge selbst anzupacken und Lösungen zu finden.

Wenn es jemanden gibt, auf den dies zutrifft, dann ist es Thomas Lechner. So jedenfalls hört es sich an, wenn er, an seinem Arbeitsplatz im Kulturverein Feierwerk sitzend, seinen Lebenslauf erzählt. Die Eltern kommen aus der Oststeiermark, sie sind als "Gastarbeiter" nach München gezogen. Lechner, Jahrgang 1961, wuchs in Sendling und Hadern auf, ging ans Ludwigsgymnasium, wo er erste politische Erfahrungen sammelte und die erste Schülerdemo, an der er teilnahm, gleich selbst organisierte. Den Versuch, nach dem Abitur Jura zu studieren, gab er schnell auf, seine Universität waren die Protestbewegungen der Achtzigerjahre, die Demonstrationen für Frieden, gegen die Nachrüstung, gegen Atomkraftwerke, gegen Wohnungsnot. Ansonsten "hab' ich mich durchgeschlagen mit so Jobs und versucht, ein bisschen was in der Gesellschaft zu verändern".

Aber da war noch etwas, eine Sache die ihm auf der Seele lastete, sein "erster biografischer Bruchpunkt". Lechner ist schwul. "Und obwohl ich im linksalternativen Kontext unterwegs war, hab' ich zunächst kein Coming-out hinbekommen." Lechner, aus dem die Worte sonst nur so raussprudeln, stockt hier ein wenig. "Ab 1987 hab' ich angefangen, an meinem Coming-out zu arbeiten." Dazu ist er als erstes in eine Wohngemeinschaft gezogen, zu einem Heteropärchen, bei dem er sich mit den Worten vorstellte: "Ich glaube, ich bin schwul."

Die nächste Phase fand in der Punkkneipe Café Normal statt, in der er damals arbeitete. Als eine Jubiläumsfeier anstand, hatte er die Idee, als Drag Queen aufzutreten. Er hat sich den entsprechenden Fummel besorgt, hat gelernt, in Stöckelschuhen zu gehen, und drei Songs einstudiert. "Ich war supernervös. Der Laden war voll, aber als beim ersten Refrain von 'Nur nicht aus Liebe weinen' die ganzen Punks und Alternativen mitschmetterten, bin ich wie im Rausch durch dieses Ding geflogen." Da war auch der Szene klar, in welcher Richtung er unterwegs war, und das hat er dann auch den Eltern erzählt. Deren Reaktion: "Warum hast du uns nicht zum Auftritt eingeladen, das hätten wir gern gesehen."

Wenn es irgendwo hakt, wartet er nicht, bis andere etwas tun, sondern er krempelt selbst die Ärmel hoch

So richtig heimisch fühlte sich Lechner anfangs nicht in der queeren Community. "Die Szene war damals ghettoisiert, und sie hat sich politisch versteckt." Später hat er sich daran gemacht, Rock und Punk, seine Lieblingsmusik, in der Schwulenszene populärer zu machen. "Candy Club" hieß das Projekt. Die erste Party zelebrierte er im Januar 1999 im Backstage, und weil das eher "ein versiffter Rockschuppen" war, hat er den Laden mit bunten Stofftieren, Luftballons und Pflanzen dekoriert. Am Einlass gab es gleich mal Bonbons, eine Liveband spielte, und Lechner legte seine Musik auf. Die Leute, Schwule, Lesben, Heteros und so weiter, waren begeistert. "Ich hab' das 20 Jahre lang gemacht, dabei ist eine neue queere Community entstanden." Auch beim Christophers Street Day hat er einige Jahre lang das Kulturprogramm gestaltet, etwa das Rathaus-Clubbing, das längst zur Institution geworden ist.

So ist das bei Lechner: Wenn es irgendwo hakt, wartet er nicht, bis andere etwas tun, sondern er krempelt selbst die Ärmel hoch. Als ihn immer wieder Münchner Bands fragten, ob er jemanden kenne, der ihre Konzerte organisiert, hat er einfach selbst eine Konzertagentur gegründet. Und als er eines Tages eine Platte der US-amerikanischen Elektropunkband Le Tigre hörte, hat er den feministischen Musikerinnen um Frontfrau Kathleen Hanna eine E-Mail geschrieben und gleich für sie eine Europatournee organisiert. "Da war ich plötzlich in dieser großen Musikbranche ein kleiner Agent, und das führte dazu, dass sich immer mehr queere Künstler bei mir gemeldet haben." Die Agentur hat er mittlerweile aufgegeben, vor wenigen Jahren hat er beim Feierwerk angeheuert - zum ersten Mal ein fester Job. "Die größte Umstellung war, mich von meinem Vagabundenleben zu verabschieden. Ich habe aber gemerkt, ich sollte doch etwas für meine Absicherung im Alter tun."

Als er im September 2015 nach seinem Besuch bei den Eltern in Österreich mit der Bahn zurück nach München fuhr, stiegen in Salzburg Hunderte Flüchtlinge in den Zug. Am Münchner Hauptbahnhof standen zahllose Menschen und empfingen die Ankommenden mit Applaus. "Da hab' ich geweint. Und mein Herz hüpfte total hoch und sagte: Das ist meine Stadt. Das ist das München, das ich liebe." Auf dem Feierwerk-Gelände in der Hansastraße hatte der Arbeiter-Samariter-Bund eine temporäre Flüchtlingsunterkunft errichtet, was Lechner und anderen Feierwerkern eine günstige Gelegenheit bot, sich zu engagieren. Unter anderem veranstaltet Lechner Handypartys, was nichts anders ist, als dass die Gäste selbst das Musikprogramm gestalten. Jeder der Geflüchteten stöpselt sein Handy ein und lässt seine Lieblingsmusik laufen, sei es nun Pop aus Syrien, afghanische Klänge oder Hip-Hop aus Nigeria. Da ging es ums Tanzen und Feiern, aber es gab noch eine ernste Seite: die Anhörungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Lechner gab Vorbereitungskurse, einige Male ging er als Zeuge mit: "Ich war bei sieben Anhörungen dabei, sechs sind abgelehnt worden. Ich kannte deren Geschichte. Es war eine Katastrophe und hat einen Wahnsinnsfrust erzeugt."

Als die CSU im Frühjahr 2018 eine aggressive Kampagne gegen die Flüchtlingspolitik fuhr, war Lechner alarmiert - und wieder machte er sich ans Werk, gemeinsam mit anderen. Sie organisierten die #ausgehetzt-Demo, und am 22. Juli stand Lechner vor 25 000 (Polizeizählung) bis 50 000 Menschen (Veranstalter-Zählung) auf der Bühne am Königsplatz und rief: "Es kann nicht sein, dass verantwortliche Politiker den rassistischen Diskurs nur zum eigenen Machterhalt bedienen."

Und jetzt die Kandidatur, die er auch als eine Art Outing betrachtet, als ein Bekenntnis, "dass ich glaube, die wirkliche politische Lösung liegt weiter links als in der Mitte". Lechner will "ein buntes, solidarisches München für Jung und Alt", in dem alle Menschen, egal, wo sie herkommen und welches Geschlecht sie haben, gleiche Chancen erhalten. "Die Demokratie schlägt sich in Prozessen nieder, die wir miteinander führen, in Empathie, in Respekt, in Demut - alles Begriffe, die zur Demokratie gehören. Viele von unseren aktuellen Politikern leben das nicht gerade vor." Lechners "Traumvorstellung" wäre es, wenn es bei wichtigen Themen noch vor der Stadtratssitzung ein Hearing mit Bürgern geben würde, die mit der Sache vertraut sind. "Wir müssen Denkmuster aufbrechen, das kreative und durchaus auch leicht anarchische Element der Bevölkerung mit einsammeln und kucken, dass wir eine aktive Gesellschaft haben."

Was die Wohnungsnot betrifft, setzt Lechner auf kommunalen und gemeinnützigen Wohnungsbau. "Wir müssen allen städtischen Grund und alle städtischen Gebäude halten, die Stadt hat schon viel zu viel Immobilien verloren." Wo es erträglich sei, müsse man verdichten, und darüber hinaus gebe es eine Menge von Möglichkeiten, ökologisch und grün zu bauen, aber es brauche soziale Steuerungsmaßnahmen - und: "Eine Abkehr von der neoliberalen Politik."

Lechner schwebt vor, München bis zum Jahr 2025 klimaneutral zu machen. Dazu müsse auch der öffentliche Nahverkehr ausgebaut werden, vor allem Querverbindungen vermisst der Linken-Kandidat. Er strebt den Nulltarif innerhalb von fünf Jahren an, was mit Sonderabgaben etwa von Hotels oder großen Unternehmen finanziert werden könnte.

Es ist wenig wahrscheinlich, dass die Münchner ihn zum Oberbürgermeister wählen. Das weiß er selbst. Den Sprung in den Stadtrat könnte er eher schaffen, auf der Linken-Liste steht Lechner auf Platz vier. Zumindest in diesem Gremium könnte er sein politisches Ziel, ein "modernes, lebenswertes München ohne Existenzangst für alle", anvisieren. Dabei würde ihm helfen, was er bei seinen Projekten häufig erfahren hat: Sich nicht gleich entmutigen lassen, auch wenn andere sagen, es geht nicht. Er hat gelernt: "Oft geht es doch."

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