Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Nur noch ein Dienstleister

Noch nie sind so viele Münchner aus der Kirche ausgetreten wie im vergangenen Jahr. Woran liegt das? Die Bindung an die Kirchen ist schwach, sie spielen im Leben vieler Menschen schlicht keine Rolle mehr

Von Jakob Wetzel

Die Zahlen sind da, und reflexartig beginnt die Suche nach dem Schuldigen. Etwa 14 000 Münchner sind im vergangenen Jahr aus einer der beiden großen christlichen Kirchen ausgetreten, mehr noch als im Jahr 2010, in dem der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche bekannt wurde. Warum? Für die einen liegt es an einer kleinen Änderung bei der Besteuerung von Kapitalerträgen; die sei von Banken falsch beschrieben und von vielen Gläubigen falsch verstanden worden. Die anderen verweisen auf den Ärger um den früheren Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst und seinen mehr als 30 Millionen Euro teuren Bischofssitz. Es sind die üblichen Verdächtigen. Aber schuld an den Austritten sind sie nicht.

Das eigentliche Problem der Kirchen sitzt viel tiefer - und das wissen sie auch, nur sprechen sie nicht gern darüber: Sie spielen im Leben vieler schlicht keine Rolle mehr. Und der Missbrauchsskandal hat das Vertrauen nachhaltig beschädigt. Laut Umfragen denkt fast jedes vierte Kirchenmitglied hin und wieder über einen Austritt nach. Längst sind die Kirchen keine Institutionen mehr, denen man wie selbstverständlich angehört. Sie seien "Dienstleister für religiöse Bedürfnisse" geworden, sagte zuletzt ein katholischer Dekan in München. Und Dienstleistungen nimmt man in Anspruch - oder nicht.

Wenn es so weit ist, fehlt nicht mehr viel zum Austritt. Meist nur ein bisschen Geld: Die Zahlen sind stets dann besonders hoch, wenn es gilt, irgendwie Steuererhöhungen zu kompensieren. Aber mittlerweile ist die Bindung an die Kirche offenbar derart schwach, dass es genügt, wenn ein bis dato unbekannter Bischof in einer Hunderte Kilometer von München entfernten Kreisstadt ein teures Gebäude errichten lässt. Der Fingerzeig auf jenen Bischof oder auf Banken hilft daher niemandem. Die Kirchen müssen fragen, was sie den Menschen wert sind und was sie tun können, um Vertrauen und Nähe zurückzugewinnen. Die Rekord-Austrittszahlen zeigen, wie hilflos sie sind: Vertrauen ist rasch verspielt, aber mühsam zu gewinnen.

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Quelle:
SZ vom 05.05.2015
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