Mai-Kundgebung:Der Krieg hat (Selbst-) Gewissheiten zertrümmert
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Auf der Kundgebung zum 1. Mai gab es Buhrufe, heftige Diskussionen und unterschiedliche Positionen. Und das ist gut so. Zufriedenes Schwenken unterschiedlich rot gefärbter Fahnen genügt heute nicht mehr.
Kommentar von Martin Bernstein
Ein Oberbürgermeister, der beinahe von der Bühne gepfiffen und gebrüllt wird. Eine junge Gewerkschafterin, die verzweifelt und unter Buhrufen militärische Hilfe zur Selbstverteidigung für das Heimatland ihrer Eltern fordert; lautstarke und manchmal fast schon handgreifliche Diskussionen unter den mehr als 5000 Teilnehmern; Kritik und Debatten auch bereits im Vorfeld über das, was auf der Bühne gesagt werden sollte und von wem: Der 1. Mai 2022 in München war anders. Der Krieg hat (Selbst-) Gewissheiten zertrümmert. Zufriedenes Schwenken unterschiedlich rot gefärbter Fahnen genügt nicht mehr. Und das ist gut so.
Dialektik müsse man aushalten, hieß es in einem Redebeitrag auf dem Marienplatz. Das war und ist - in guten Momenten - die Stärke einer im weitesten Sinn linken Arbeiterbewegung: Widersprüche zu benennen, auszuhalten, sich an ihnen zu reiben. Reibungshitze gab es in der Tat genügend am Sonntagmittag vor dem Münchner Rathaus. Dazu hätte es die ewig gestrigen Linksaußen (die erstaunlich jung waren) mit ihrem degoutanten Geschwurbel vom "deutschen Krieg" und dem "deutschen Imperialismus" nicht gebraucht: Krieg und Imperialismus besorgen gerade andere. Und ob es trotz offensichtlich konträrer Meinungen schon im Vorfeld den Auftritt des Münchner Oberbürgermeisters mit einem Werbeblock in eigener sozialdemokratischer Sache unbedingt gebraucht hätte, auch darüber lässt sich trefflich streiten. Was vor Ort dann ja auch heftig getan wurde. Andererseits: Wann und wo sonst sollte die vielen arbeitenden Menschen drohende Unbezahlbarkeit des Lebens in München denn angesprochen werden, wenn nicht auf einer Kundgebung zum 1. Mai?
So hat dieser bemerkenswerte 1. Mai 2022 in München gezeigt: Krieg und Krise lassen niemanden unberührt, schon gar nicht die traditionell links verortete Gewerkschaftsbewegung. Wann ist zuletzt auf einer DGB-Veranstaltung so viel diskutiert, gestritten und - ja - auch mit den eigenen Worten gerungen worden? Fast wirkten die Teilnehmer in ihrer Masse erleichtert, wenn sie sich für kurze Momente einig sein durften: darüber, dass zu viel Geld für Rüstung und zu wenig für Gesundheit, Bildung und Soziales in die Hand genommen wird. Alles andere aber, die Fragen von Krieg und Frieden, von Waffenlieferungen und Diplomatie, wurde an diesem Sonntag auf dem Marienplatz nicht deklamiert, sondern debattiert. Auf der Bühne und davor. Der historische "Kampftag der Arbeiterklasse" zeugte diesmal vom Ringen mit den eigenen Positionen.