Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Eine Frage des Stils

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In Giesing wird um ein Haus getrauert, in einer Anzeige von Verdi wird die Verlagerung von Arbeitsplätzen mit Trauerflor begleitet - zwei Fälle, in denen Tod und Trauer als Stilmittel genutzt werden. Und in denen dies vor allem einfalls- und geschmacklos ist

Von Heiner Effern

Ein schwarzer Palmzweig liegt über den Fuß eines Kreuzes gebreitet. Die Anzeige von Verdi umzieht ein Trauerrand. Auf dem Querbalken ist in roter Schrift Ort und Zeit für den vermeintlichen Abschied vermerkt. Treffpunkt ist allerdings nicht ein Friedhof, sondern der Marienplatz. Dort sollen an diesem Mittwoch Mitarbeiter der städtischen Computertechnik dagegen protestieren, dass künftig eine Tochter der Stadtwerke (SWM) die Rechner, Programme und Server der Schulen betreut. Auch Giesing trägt Trauer, seit Wochen schon. Genauer gesagt: die Obere Grasstraße. Drei Kreuze stehen da vor einem Haufen Bauschutt, die Todesanzeige hängt draußen an einem Zaun, rote Grablichter brennen. Ein denkmalgeschütztes Haus wurde hier illegal abgerissen.

Die Trauer und der Tod als Stilmittel des Protests, das eint diese beiden so unterschiedlichen Anlässe bürgerlicher Wut. Dahinter steckt die Angst vor Veränderung, das Gefühl, nicht mehr mithalten zu können, der Schmerz über einen drohenden Verlust. Zum einen ist es der sichere Arbeitsplatz bei der Stadt, der in Gefahr zu sein scheint. Neue Chefs, neue Abläufe, neue Verträge stellen die gewohnte Existenz infrage. Zum anderen sorgen sich die Menschen wegen der explodierenden Mieten. Das kalte Gefühl macht sich breit, sich die Heimat nicht mehr oder nicht mehr lange leisten zu können. Neubauten und Luxussanierungen verändern nicht nur das Gesicht der Stadt, auch das persönliche Lebensgefühl leidet.

Wer so empfindet, hat das gute und bewährte demokratische Recht, dagegen zu protestieren und zu demonstrieren. Gerne auch emotional und kreativ. Das haben auch die zu akzeptieren, die anderer Meinung sind. Allerdings müssen sich die Menschen, die sich in diesen beiden Fällen engagieren, schon fragen lassen, ob sie in der Wahl der Mittel nicht weit übers Ziel hinausschießen. Als Mitarbeiter einer Stadtwerke-Tochter ist man nicht zum Tode verurteilt. Und in Giesing liegen keine verstorbenen Menschen, sondern schon immer leblose Steine, Ziegel und Balken. Wenn die Abrissstelle an der Oberen Grasstraße aussieht wie ein spontanes Mahnmal für ein Unglück oder eine Gewalttat mit Todesopfern, dann stimmen die Relationen nicht mehr. Im schlimmsten Fall sind solche Formen des Protests pietätlos, in jedem Fall sind sie einfalls- und geschmacklos.

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Quelle:
SZ vom 18.10.2017
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