Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Anschwellende Alarmzeichen

Die hohe Zahl der Hassverbrechen zeigt, wie dünn das Eis ist, auf dem in diesen Tagen die liberale, aufgeklärte Stadtgesellschaft Halt zu finden versucht

Von Martin Bernstein

Man mag es nicht fassen: Woche für Woche mindestens ein Hassverbrechen in München. Und damit sind nicht Schmierereien gemeint, Beleidigungen auf offener Straße, Hetze im Internet. Das gibt es noch viel öfter. Sie liefern das Grundrauschen, den Hintergrund, vor dem geschlagen, gespuckt, getreten wird. Alltag in München im Jahr 1 der Corona-Pandemie. Es sind keine Rechtsextremisten, die so etwas tun. Es sind Menschen, die sich selbst oft in der Mitte der Gesellschaft verorten würden, Menschen, denen einfach die Maske, die Sprache, buchstäblich: die Nase des anderen nicht passt. Und die dann drauf hauen. Ihre Beweggründe muss man nicht vermuten, sie liefern sie mit in Form rassistischer, antisemitischer, schwulenfeindlicher Beschimpfungen.

In derselben Mitte der Gesellschaft wähnen sich viele, die auf Kundgebungen gegen die Corona-Beschränkungen protestieren. Ihr gutes Recht, ohne Frage. Und genauso fraglos ist Kritik, sind Skepsis und Diskurs unbedingt nötig in einer freien Gesellschaft. Aber sich deshalb gemein machen mit denen, die diese Freiheit abschaffen wollen oder sich ausgerechnet von Putin oder Trump die Freiheit erhoffen, die sie meinen? Mit Reichsflaggen-Trägern und Rechtsextremisten? Mit Menschen die, wie in München passiert, "Nazi" mit "Nicht allem zustimmen - informieren" übersetzen? Mit Leuten, die Juden immer noch und wieder als Kindermörder und raffgierige Strippenzieher im Hintergrund verteufeln?

Nein, nein und nochmals nein. Mit demokratisch legitimer Kritik hat das genauso wenig zu tun wie ein brutaler Tritt mit einem Diskussionsbeitrag. Beide Phänomene - die politische Blindheit und demokratische Wurschtigkeit vieler Mitläufer bei Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen wie der alltägliche Rassismus, der Mitbürger zu störenden "Anderen" umetikettiert -, beides sind Alarmzeichen. Sie zeigen, wie dünn in diesen krisenhaften Tagen das Eis ist, auf dem auch eine liberale, aufgeklärte Stadtgesellschaft Halt zu finden versucht. Unterm Eis aber, da schaut es ganz finster aus.

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Quelle:
SZ vom 18.01.2021
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