Süddeutsche Zeitung

Kocherlball am Chinesischen Turm:Morgens halb sechs in München

Tanz, Picknick und Bier in aller Frühe: Im Englischen Garten treffen sich beim Kocherlball 12.000 Frühaufsteher - und haben so gar nichts mit den Joggern rundherum zu tun.

Wenn Dirndlträgerinnen an einem frühen Morgen im Juli durch die Maxvorstadt radeln, dann ist noch nicht Wiesn, sondern Kocherlball. Dieses Jahr feierten und tanzten 12.000 Menschen im Englischen Garten. Wo sonst höchstens ein paar Jogger unterwegs sind, waren zahlreiche Trachtler auf dem Weg zum Chinesischen Turm. Die ersten waren so früh da, dass sie Kerzen in der Dunkelheit aufstellten.

Die einen in Lederhose und Dirndl, die anderen in historischen Kostümen - aber "ganz normal" waren die wenigsten Frühaufsteher angezogen. Die Tradition des Kocherlballs geht auf das 19. Jahrhundert zurück. Damals feierten Dienstmägde, Kindermädchen, Diener und Küchenpersonal in aller Herrgottsfrüh, bevor die "Kocherl" wieder an die Arbeit mussten.

Heute arbeiten die wenigsten als Bedienstete. Und neben um Authentizität bemühten Garderoben findet man auch zahlreiche Billig-Trachten-Outfits rund um den Chinesischen Turm. München ist übrigens nicht allein mit seinem Ball - inzwischen gibt es mehrere Nachahmer in Bayern.

Mit dem Wetter hatten die Kocherlball-Besucher dieses Jahr wieder Glück. Gegen fünf Uhr fielen zwar einige Regentropfen, aber die Gewitterwolken verzogen sich schnell wieder. Wenig später konnte der Ball dann bei Sonnenschein beginnen. Der ein oder andere prominente Tänzer war auch dabei.

Ganz nah am Bürger: Oberbürgermeister Dieter Reiter und seine Frau Petra Reiter waren mittendrin dabei. Der OB sagte, der Kocherlball sei ein Synonym für bayerisches Lebensgefühl. Im Rathaus regiert der SPDler zwar mit der CSU - aber den Walzer beherrscht nach eigener Aussage auch links herum. Und führen, sagt seine Frau Petra, könne er sehr gut.

Wer die Volkstänze nicht sofort parat hatte, der bekam Hilfe von den Tanzmeistern. Katharina Mayer und Magnus Kaindl leiteten die Menge an. Und wer trotzdem stolpert oder dem Gegenüber auf die Füße tritt: Wurscht, Spaß ist die Hauptsache.

So sieht das Ganze von oben aus: Ein Meer aus Menschen in der Morgensonne. Im 19. Jahrhundert fand der Kocherlball - oder etwas weniger charmant "Dotschentanz" - regelmäßig an den Sonntagen im Sommer statt. 1904 wurde die Veranstaltung aus "Mangel an Sittlichkeit" verboten.

Seit 1989 gibt es den Kocherlball wieder, zum 200-jährigen Jubiläum des Englischen Gartens wurde er am Chinesischen Turm wiederbelebt. Seitdem findet er jedes Jahr am dritten Sonntag im Juli statt. Im Biergarten darf Essen mitgebracht werden, und rundherum machen es sich viele auf Picknickdecken bequem. Nach Tanz, Bier und Frühstück braucht man dann erst mal ein Nickerchen. Wie gut, dass es im Englischen Garten genug Platz gibt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2572536
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/dpa/ebri
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.