Klavier:Fluch und Segen von Pianistenhänden

Thomas Yu bei Piano-Marathon in München, 2016

Herantasten an die Welt der Musik: Ohne Begabung, Fleiß und Üben wird’s wohl nichts mit der Karriere.

(Foto: Catherina Hess)

Wohlmeinende Beschwörungen machen noch lange keine Virtuosin.

Von Sabine Reithmaier

Das Kind hatte schmale Hände und lange Finger. Prädestiniert zum Klavierspielen, sagten alle, die diese Hände sahen. Weshalb in der Familie ungefähr seit der zweiten Lebenswoche des Kindes feststand, welches Instrument die Tochter einmal spielen würde. Außerdem brauchte der Vater, ein genialer Sänger, unbedingt eine ebenso geniale Begleitung.

Im Kindergarten herrschte allerdings Flötenzwang. Wer als halbwegs begabt eingestuft werden wollte, tat gut daran, einen gewissen Eifer an den Tag zu legen, um das Wohlgefallen der Klosterschwestern zu erregen. Die Flötenquietscherei fand das Kind auch halbwegs erträglich, wenngleich es sich vor den nassen Mundstücken ziemlich ekelte. Schrecklicher erschienen ihm die Notenhefte mit den dickbauchigen Männchen, die grinsend auf den Linien im Heft rumkletterten. Ihre Bäuche mussten ausgemalt werden, so präzis wie möglich. Leider brachte das Kind nie die Geduld auf, die runden Wampen so musterhaft auszuschraffieren, wie sich Schwester Meinhilde das vorstellte. Es strichelte locker über die schwarzen Begrenzungslinien hinweg, ertrug den regelmäßigen Tadel, moralisch abgesichert durch die Überzeugung des Vaters, dass sich Pianistenhände zum Malen einfach nicht eigneten.

Wohl auch deshalb empfand das Kind den Klavierunterricht als deutlich angenehmer. Die Noten in Schwarz genügten, was Aktivitäten mit irgendwelchen Mal-Utensilien ersparte. Das Unterrichtsbuch war hellbraun und hieß "Das innere Hören", ein Titel, der dem Kind nichts sagte. Brav arbeitete es sich durch Band 1 und 2, begleitet von einer uninspirierten Klavierlehrerin, die das Ganze mindestens ebenso langweilig fand wie das Kind. Bewegung in die lähmende Angelegenheit kam durch den Musiklehrer am Gymnasium, der das Kind mit Schumanns "Fröhlichem Landmann" auf die Bühne zwang. Er vertrat die interessante Ansicht, mit diesen Händen müsse man eigentlich Cello spielen. Das Kind wäre, allein der Abwechslung halber, dazu bereit gewesen, die Eltern aber nicht. Die hatten inzwischen berechtigte Zweifel daran, ob Hände allein eine Pianistin ausmachen und nicht doch noch etwas mehr dazu gehörte, Begabung zum Beispiel, Fleiß - und Üben. Aber gerade die letzten beiden zählten zu den Begriffen, die für das Kind aller wohlmeinenden Beschwörungen diverser Pädagogen zum Trotz wie Fremdwörter klangen.

Außerdem war das Kind nun schon fast kein Kind mehr. Während es den Vater zu Schubert-Liedern begleitete und sich ansonsten durch das "Notenbüchlein für Anna Magdalena" quälte, innerlich Janis Joplin viel näher als der zweiten Ehefrau Bachs, beschloss es endgültig, das Klaviergestümper aufzugeben und die Hände lieber dafür zu nutzen, das Spiel anderer zu beklatschen. Und diesen Entschluss hat das Kind von damals trotz aller gegen teiliger Prognosen noch keine Sekunde bereut.

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