KulturmarketingWarum sich immer mehr Klassikmusiker wie Popstars inszenieren

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Lässige Pianisten: Die Brüder Arthur und Lucas Jussen aus den Niederlanden treten auch auf der Bühne auf wie Popstars auf.
Lässige Pianisten: Die Brüder Arthur und Lucas Jussen aus den Niederlanden treten auch auf der Bühne auf wie Popstars auf. (Foto: Marco Borggreve)

Die Brüder Arthur und Lucas Jussen sitzen in Glitzeranzügen am Klavier, auch andere Künstler lassen sich hip fotografieren. Die in der Klassik grassierende Pop-Ästhetik ist aber mehr als ein Marketingtrick – sie verändert die Kreativität der Branche.

Von Rita Argauer

So richtig auffällig wurde es vor gut zehn Jahren. Die Münchner Pianistin Alice Sara Ott, eine bis dahin auf ihren Plattencovern noch kaum von anderen zu unterscheidende Klavierelfe im romantischen Chiffon-Kleid, änderte ihr Auftreten radikal. Sie brach mit dem Bild all der hübsch zurechtgemachten und virtuos spielenden Pianistinnen, die, in oft unerträglichem Kitsch vor Wasserfällen, in Wäldern oder auch nur mit ihrem Flügel schmusend sehnsuchtsvoll in die Ferne blickend, abgelichtet wurden. Alice Sara Ott trug plötzlich eine akkurat geschnittene, super modische Bob-Frisur und eine schwarze Lederhose. Die Fotos in Schwarz-Weiß. Der Albumtitel in Pink: „Scandale“, aufgenommen gemeinsam mit dem ohnehin schon immer in die Pop- und Clubmusik schielenden Pianisten Francesco Tristano. Es sah aus wie eine Mischung aus Postpunk und Techno. Es klang: großartig klassisch. Denn die beiden hatten sich nur visuell von ihrem Kerngeschäft entfernt. Eingespielt hatten sie Ravel und Strawinsky.

Könnte auch ein Pop-Album sein: das Plattencover für „Scandale“  von Alice Sara Ott und Fransesco Tristano.
Könnte auch ein Pop-Album sein: das Plattencover für „Scandale“  von Alice Sara Ott und Fransesco Tristano. (Foto: Deutsche Grammophon)

Diese Hinwendung zu einer anderen visuellen Inszenierung der Klassik-Stars beobachtet auch Marco Borggreve. Der Niederländer hat Nikolaus Harnoncourt, Tabea Zimmermann oder Fazil Say fotografiert. Anfang der Achtzigerjahre hat er damit angefangen. „Da machte man als Musiker so etwas nicht, wie sich schön fotografieren zu lassen“, berichtet er. Damals galt alles, was von der Musik ablenken würde als verpönt. Die Musiker-Porträts sollten also ein möglichst ernstes, neutrales Bild abgeben, um schon an sich zu demonstrieren: Hier geht es um etwas anderes! Nämlich um Kunst, um große. Um Philosophie vielleicht noch. Und natürlich um Musik.

Das hat sich über die vergangenen 40 Jahre radikal verändert. Der Zugriff auf das „Wie“ in der Abbildung von klassischen Musikerinnen und Musikern hat sich geöffnet; und sich dabei einiges von der Popmusik abgeschaut. Denn hier ist eine solche Inszenierung Teil des Spiels. Popmusik, in der sich die verschiedenen Songs über die Jahrzehnte hinweg harmonisch nicht so wahnsinnig abgrenzen und unterscheiden, setzt schon rein musikalisch auf etwas anderes: auf Stil. Hier geht es nicht darum, welche Harmonie-Folge gespielt wird. Sondern wie diese klingt. E-Gitarre oder Synthesizer? Rock oder Techno? Und dieser Fokus auf Stil setzt sich in der visuellen Darstellung der Künstler fort: Man erkennt auf Pop-Fotos sofort, ob es sich da um einen Rapper handelt oder einen Punk.

Gerade jüngere Klassik-Künstler setzen zunehmend auf eine solche stilbildende Inszenierung. Allerdings nicht so wie David Garrett, der sich visuell als Rocker inszeniert und musikalisch ebenfalls Motive der klassischen Musik in einem Pop-Kontext übersetzt. Die klassischen Musiker spielen aber weiterhin rein klassische Musik. Nur nutzen sie mittlerweile auf Fotos und Plattencovern ebenfalls ästhetische Strategien, die man eigentlich aus dem Pop kennt.

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Lucas und Arthur Jussen werden als Klavierduo auf der ganzen Welt gefeiert. Aber wie ist es, wenn man für den Erfolg immer auch den Bruder braucht? Ein Familienbesuch.

SZ PlusVon Josef Wirnshofer (Text) und Friedrich Bungert (Fotos)

Der Bruch beginnt für Marco Borggreve mit der Krise der Plattenindustrie um die Jahrtausendwende. „Da ist die Stimmung umgeschlagen“, sagt Borggreve. Künstlerinnen und Künstler begannen, anders darüber nachzudenken, wie sie ihre CDs, ihre Musik interessant machen und verkaufen konnten. Es wurde wichtiger, sich als Mensch selbst zu zeigen. Und die Gestaltung dessen lag auch mehr in der Verantwortung der einzelnen Musiker. „Früher kam das alles von der Plattenindustrie“, berichtet Borggreve, „jetzt kommt das von den Musikern selbst“.

Was er sieht in diesen neuen Fotos: „Den Menschen. Bei mir ist immer die Person zentral.“ Und ausgehend vom Repertoire, entwickeln Künstler und Fotograf dann gemeinsame Ideen, wie sich die ästhetische Linie des Albums in der visuellen Abbildung fortsetzen kann. „Für die Kreativität war die Krise die Rettung“, sagt er.

In München sind sie mittlerweile Publikumslieblinge: die Geschwister Sheku und Isata Kanneh-Mason aus Großbritannien.
In München sind sie mittlerweile Publikumslieblinge: die Geschwister Sheku und Isata Kanneh-Mason aus Großbritannien. (Foto: DECCA)

Das fällt auf. Bei der britischen Kanneh-Mason-Familie, bei der französischen Trompeterin Lucienne Renaudin Vary, der US-amerikanischen Sopranistin Julia Bullock – oder schon lange bei Arthur und Lucas Jussen. Sie alle zeigen sich visuell so greifbar und gleichzeitig so eigen wie das sonst eben eher bei Popstars der Fall ist. Doch es gehört natürlich schon eine entsprechende Persönlichkeit dazu. Die Jussen-Brüder treten auch auf der Bühne auf wie Popstars, bisweilen im Glitzeranzug, lachend, offen, präsent als Menschen. Und so spielt bei der Pop-Ästhetik in der Klassik vielleicht auch noch etwas anderes eine Rolle. Hier gibt es nun eine neue Generation an jungen Erwachsenen, die klassische Musiker sind. Für die aber die strenge Trennung von Pop und Klassik in der Jugend nicht mehr so prägend war. Natürlich hören die Popmusik. Natürlich kennen die die großen Stars. Und natürlich wird Pop auch nicht mehr zwangsläufig als minderwertig belächelt.

Gibt sich ziemlich cool: das brasilianische Jugendorchester Neojiba.
Gibt sich ziemlich cool: das brasilianische Jugendorchester Neojiba. (Foto: Karol Azevedo)

Und während die Gema in Deutschland dieser Tage den Konflikt verhandelt, wie sich dieser neue Blick auf Musik – ob Klassik oder Pop – im Vergütungsmodell von E- und U-Musik niederschlagen soll, ist die Praxis schon weiter: Die Münchner Philharmoniker haben nun auch jüngere Leute im Konzert. Die Jussens werden auf der Bühne gefeiert. Jugendorchester wie das Neojiba Orchestra lassen auf dem Podium auch mal Samba tanzen und die Musikerinnen und Musiker dazwischen sind äußerlich so jugendlich und Pop-affin, dass man sich um die Zukunft der Klassik eigentlich fast keine Sorgen machen müsste.

Neojiba Orchestra mit Lucas und Arthur Jussen, Dienstag, 27. Mai, 20 Uhr, Isarphilharmonie

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