Süddeutsche Zeitung

Prozess in München:Ausbeutung statt Ausbildung

  • Eine junge Frau arbeitet fünf Jahre als Praktikantin bei einem Versicherungs- und Finanzvermittler in der Münchner City.
  • 300 Euro Lohn standen ihr monatlich laut Vertrag zu. Nun aber verklagt sie den Arbeitgeber und will 77 316 Euro einschließlich Zinsen als Differenzlohn für das verschleierte Arbeitsverhältnis.
  • Die DGB-Jugend kritisiert, dass immer mehr Arbeitgeber mit Praktikanten reguläre Arbeitsplätze ersetzen.

Von Christian Rost

Sie war 16 Jahre alt, hatte den Realschulabschluss in der Tasche und suchte einen Job. Als Bürokraft bewarb sich Sabine M. (Name geändert) bei einem Versicherungs- und Finanzvermittler in der Münchner Innenstadt. Sie bekam die Stelle auch, allerdings nur als Vollzeit-Praktikantin mit einem monatlichen Lohn von 300 Euro. Fünf Jahre arbeitete die junge Frau zu diesen Bedingungen. Jetzt hat sie die GmbH verklagt, weil sie sich ausgenutzt, betrogen fühlt: 77 316 Euro einschließlich Zinsen verlangt sie als Differenzlohn für das verschleierte Arbeitsverhältnis. Das Beispiel ist extrem - allerdings ist es in München kein Einzelfall, dass Praktikanten ausgebeutet werden.

"Mit einem Praktikum sollen junge Menschen berufliche Kenntnisse in der betrieblichen Praxis erwerben oder vertiefen", beschreibt die Jugendorganisation des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB-Jugend) den Sinn einer solchen Tätigkeit. Meist werden Praktika während einer Ausbildung oder eines Studiums gemacht und sind genau geregelt. Es gibt aber auch freiwillige Praktika. Wie das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung herausgefunden hat, sind in Deutschland jährlich mehr als eine halbe Million junger Leute in allen möglichen Berufszweigen als Praktikanten im Einsatz.

Die DGB-Jugend kritisiert, dass immer mehr Arbeitgeber mit Praktikanten reguläre Arbeitsplätze ersetzen. Die Gewerkschaft fordert deshalb klare Anforderungen an ein "faires" Praktikum: dass es zeitlich begrenzt ist auf höchstens drei Monate, mit mindestens 300 Euro angemessen vergütet wird und ein Vertrag Ausbildungsinhalte und -ziele definiert.

Praktikanten statt reguläre Arbeitnehmer

Im Fall von Sabine M. gab es einen Praktikums-Vertrag. Er wurde im September 2009 unterschrieben und lief unbefristet. Die wöchentliche Arbeitszeit war auf 43 Stunden festgesetzt, Überstunden wurden nicht bezahlt, dafür sollte M. einmal wöchentlich in Theorie fortgebildet werden, um nach vier Jahren bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) die Prüfung zum "Fachberater für Finanzdienstleistungen" ablegen zu können. Der Unterricht im Privathaus des Chefs in der Nähe des Chiemsees sei regelmäßig abgehalten worden, so Sabine M. Sie und auch andere Praktikanten, die sie teils selbst habe anwerben müssen, seien aber öfter angewiesen worden, sich um den Garten ihres Chefs zu kümmern - jäten statt büffeln.

In der Firma kümmerte sich Sabine M. um den Internetauftritt der GmbH und akquirierte Kunden. Als sie im Herbst 2014 zur Prüfung bei der IHK antrat, fiel sie durch. Allmählich realisierte sie, dass sie über Jahre hinweg ausgenutzt worden war. Als ihr dann auch kein Urlaub bewilligt wurde und es Streit darüber gab, begann sie sich zu wehren und nahm sich einen Anwalt: Sascha Petzold von der Kanzlei Rieger-Endres reichte Anfang Mai am Münchner Arbeitsgericht Klage gegen den - inzwischen ehemaligen - Arbeitgeber ein und fordert rückwirkend "die übliche Vergütung" für die Tätigkeit der jungen Frau als Bürokraft - in der Summe 77 316 Euro.

"Wer Arbeitnehmer als Praktikanten derart ausbeutet, betreibt moderne Sklaverei", klagt Anwalt Petzold. Der Arbeitgeber habe vorgetäuscht, dass ein Praktikum für die IHK-Prüfung notwendig sei, deshalb blieb die junge Frau überhaupt erst so lange zu diesen Bedingungen in der Firma. "Dabei hätte Frau M. auch zu ganz normalen Konditionen arbeiten können, um sich auf die Prüfung vorzubereiten", sagt Petzold. Die IHK wollte den Fall auf Anfrage nicht kommentieren und verwies darauf, dass entweder eine abgeschlossene kaufmännische Ausbildung oder eine mindestens vierjährige Berufspraxis Voraussetzung für die Prüfung sei.

Sittenwidriger Stundenlohn

Sabine M. hat aber weder eine Ausbildung erhalten, noch war sie als Vollzeitkraft regulär angestellt worden. Ihr Anwalt sagt, sie sei als Praktikantin höchstens "ein bisschen ausgebildet" worden. Und der ihr gezahlte Stundenlohn von rund 1,75 Euro war aus Petzolds Sicht nicht nur sittenwidrig, sondern habe auch einen Straftatbestand erfüllt. "Wenn weniger als zwei Drittel des üblichen Lohnes bezahlt werden, ist das Lohnwucher", sagt der Jurist. Seit es den Mindestlohn von 8,50 Euro gebe, liege außerdem auch in dieser Hinsicht ein klarer Verstoß vor.

Fälle von Lohnwucher, die als Praktikum verschleiert werden sollen, seien keine Seltenheit, berichtet der Jurist, der ein weiteres Verfahren gegen einen Arbeitgeber führt: Eine Münchner Event-Firma beschäftigte einen 23-Jährigen sieben Monate als Praktikanten für 450 Euro im Monat. Der Mann drängte dann auf ein festes Arbeitsverhältnis, woraufhin er einen Vertrag als "leitender Angestellter" bekam - mit einer monatlichen Vergütung von 700 Euro. Auch dieser Dauer-Praktikant klagt nun gegen seinen ehemaligen Chef.

Für Fälle von Lohnwucher und Verstößen gegen das Mindestlohngesetz ist beim Hauptzollamt München die Abteilung "Finanzkontrolle Schwarzarbeit" zuständig. Dort nimmt man die Sache ernst: "Wenn wir von solchen Arbeitsverhältnissen erfahren, gehen wir dem nach", sagt Zoll-Sprecherin Marie Schuster. Betroffene, die sich ausgenutzt fühlen, könnten sich direkt an die Finanzkontrolle wenden.

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SZ vom 18.05.2015/vewo
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