Kitzbühel:Zwischen Sommersause und Winterwahn

Eine Stadt wird wieder sichtbar: Münchens "Nobelvorort" Kitzbühel verarbeitet im Herbst den Stress der vergangenen Saison.

Stephan Handel, Kitzbühel

Vor den Fenstern die Geranien, sie sind schon lange verblüht. Der Regen tropft auf Kopfsteinpflaster, beim Billa gibt es "Schweinsripperl geselcht", 5,99 Euro das Kilo. Hubert, der Kutscher, sitzt auf seinem Kutschbock und starrt die fast leere Straße hinunter. "Naa", sagt er, "jetz is vorbei."

Kitzbühel im Oktober - eine Stadt wird sichtbar, wieder sichtbar. Von Dezember an verstellen die Touristen den Blick auf Kitzbühel, schütten ihn zu mit Champagner, feiern alles Beschauliche weg: Fast eine Million Übernachtungen im Jahr, in einem Ort, der selbst nur 8000 Einwohner hat.

Jetzt aber gibt das Sporthotel Reisch auf Zetteln bekannt, dass es erst am 4. Dezember wieder aufmacht, der Kutscher Hubert spürt, dass er seine beiden Rösser und die Kutsche aus Polen, 11.000 Euro hat sie gekostet, bald einwintern kann, und im McDonald's an der Gänsbachgasse ist so wenig los, dass der Big Mac frisch zubereitet und von der Servicekraft an den Tisch gebracht wird.

Bei Ilse Siegner allerdings sind am Abend die Tische gut besetzt, was zum einen sicher an der Ente liegt, die sie serviert, zum anderen aber auch daran, dass das Restaurant "Alt-Kitzbühel" vor dem ganzen Touristen-Wahnsinn nicht komplett kapituliert hat - hierhin kommen Eingesessene, auch wenn im Gästebuch am Eingang Einträge auf Griechisch, Kyrillisch, Französisch, Englisch und Finnisch zu finden sind. Die Kitzbühler, sagt Ilse Siegner, machen's Neuankömmlingen nicht leicht - "man braucht, bis man an sie rankommt und dazugehört". Ein Platz an den beiden großen Tischen vorne rechts im "Alt-Kitzbühel" - das könnte schon ein guter Beleg dafür sein, dass es vorangeht mit der Integration.

"Getränke! Wir brauchen viel mehr Getränke!", schreit Cosima Aichholzer um ein Uhr nachts im Festsaal des Hotels "Zur Tenne". Hier findet gerade so etwas wie das letzte Aufflackern des mondänen Kitzbühels statt, und das ist natürlich ohne Wodka überhaupt nicht auszuhalten: Der "Herzerljäger-Ball", den Aichholzer seit fünf Jahren veranstaltet, vereint all jene, die in Wien, Salzburg, Monaco und München wichtig sind oder das von sich zumindest glauben. München ist in diesem Jahr allerdings nicht so gut vertreten, weil drüben, im Arosa-Hotel, am selben Abend Robert Hübner Geburtstag feiert, den sie einen Münchner Immobilien-Mogul nennen, was sich unter anderem darin beweist, dass er von seiner Frau endlich den dringend benötigten Mitflug in einem Kampf-Jet geschenkt bekommt.

Dort also weilen an diesem Abend die Promibohrer und Schnittchenschmierer von Kitzbühel, dem Nobelvorort Münchens, während in der Tenne Werner Baldessarini recht alleine die bayerische Fahne hochhält. Es gab zur Begrüßung einen Händedruck von Johannes Mitterer, dem Hoteldirektor, dann vier Gänge und nun einen DJ, trotz Dirndl und Lederhose wird gerockt, was das Mieder hergibt. Mittendrin Tatjana Batinic, die sich ihre Einladung dadurch erarbeitet hat, dass sie mal Miss Austria war, was wiederum Christian Abermann schwer beeindruckt. Er hat sich einen Namen gemacht als Veranstalter der "Almrausch"-Party, eine Art Ballermann für Besserverdienende, die sich statt mit Sangria mit Champus die Kante geben.

Am nächsten Morgen steigt an der Rezeption der Tenne die Nachfrage nach Aspirin. Das ist kein Wunder, denn Cosima Aichholzer hatte schon gesagt, dass für gewöhnlich die letzten Herzerljäger direkt vom Ballsaal ans Frühstücksbuffet wechseln. Draußen ist der Himmel eher noch ein bisschen grauer und die Straße noch ein bisschen leerer als am Tag zuvor; die Boutiquen von Luis Vuitton und Tommy Hilfiger wirken plötzlich unangebracht. Jetzt sind sie fast unter sich, die 8000 Kitzbühler und jene 2000 Münchner, Wiener, Salzburger, die das Glück hatten, eine Immobilie gekauft zu haben, die eine so genannten "Freizeitwohnungswidmung" besitzt - nur dann nämlich darf ein Zweitwohnsitz eingerichtet werden - wer immer sonst nach Kitzbühel ziehen möchte, muss seinen Hauptwohnsitz hier eintragen.

Arme Leute würden sowieso nicht kommen, die Preise haben Münchner Niveau, Krassnigg Immobilien zum Beispiel bietet im Schaufenster eine Dachgeschosswohnung an, Zentrum, 360 Quadratmeter, drei Millionen Euro.

Das Casino in der Hinterstadt ist an diesem Abend ein trister Ort: Einer von zwei Roulette-Tischen wird mangels Nachfrage gerade geschlossen, eine Black-Jack-Runde, ein paar Automaten-Daddler, das war's. "Heute hatten wir 100 Gäste", sagt Hannes Hutter, der Direktor. "In der Saison sind's mehr als 1000 am Abend." Dann wird auch der erste Stock geöffnet, den sie jetzt nicht brauchen. Dann fließt der Schampus, und die Jetons fliegen - 700000 Euro war der höchste Roulette-Gewinn, den ein Gast mal hinausgetragen hat. "Natürlich freuen wir uns, wenn unsere Gäste gewinnen", sagt Hutter tapfer. "Aber an so was knabbern wir schon einige Zeit."

Noch auf einen Plausch zu Annemarie Foidl, die auf ihrer Visitenkarte - wir sind in Österreich - "Dipl. Somm." als Berufsbezeichnung stehen hat, was Diplom-Sommelier bedeutet, also Weinfachfrau. Foidl betreibt die Angereralm, im Moment jedoch nicht - auch dort ist geschlossen bis Anfang Dezember. "Oft ist das Aufmachen teurer als das Zusperren", sagt sie.

Langweilig wird ihr aber sicher nicht: Sie ist Präsidentin des österreichischen Sommelierverbands, deshalb muss sie jetzt erst einmal nach Lettland zu einem Wettbewerb, dann nach Velden, dann nach Zürich und schließlich nach Japan zum Kongress, weil sie im Weltverband für die Ausbildung zuständig ist. Danach aber hat sie doch noch ein paar Tage frei, und die wird sie natürlich in Kitzbühel verbringen. "Das ist die schönste Zeit", sagt Annemarie Foidl, "alles schön ruhig, wenig Leute, Platz in der Stadt."

Eine Stadt lebt vom Tourismus und freut sich, wenn die Touristen weg sind. Kitzbühel inszeniert zehn Monate im Jahr den Rausch und wundert sich über den Kater, wenn er vorbei ist. Zehn Monate im Jahr ist Kitzbühel unsichtbar, und wenn es dann wieder auftaucht, bleibt eine kleine Stadt in Tirol. Beim Billa in der Vorderstadt gibt es heute Surrollbraten. Wenn man nicht aufpasst, kann man leicht "surreal" lesen.

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