Kino:Westfront in Niederbayern

Kino: Das Glaszimmer: Anna (Lisa Wagner) flieht mit ihrem Sohn Felix (Xari Wimbauer) in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs aus dem zerbombten München in ihr niederbayerisches Heimatdorf.

Das Glaszimmer: Anna (Lisa Wagner) flieht mit ihrem Sohn Felix (Xari Wimbauer) in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs aus dem zerbombten München in ihr niederbayerisches Heimatdorf.

(Foto: Jürgen Olcyk)

Wie gehen Kinder mit dem Thema Krieg um? Christian Lerch erzählt in seinem Kinofilm "Das Glaszimmer" von gestern - und ist damit erschreckend aktuell. Allen recht machen kann er es trotzdem nicht.

Von Josef Grübl, München

Er wolle nicht weg aus München, sagt der Junge im Frühjahr 1945 zu seiner Mutter. "Felix, unser Haus hat kein Dach mehr", antwortet sie. Die Kinder aus Kiew oder Charkiw wollen ihre Heimatstädte ebenfalls nicht verlassen, im Frühjahr 2022 bleibt ihnen aber keine Wahl - und ihre Eltern antworten ähnlich wie die Mutter in Christian Lerchs Kinofilm "Das Glaszimmer". Der bayerische Regisseur und Drehbuchautor erzählt damit also eine Geschichte von heute, obwohl diese knapp acht Jahrzehnte zurückliegt. Er beschäftigt sich mit der Frage, wie Kinder auf Kriege reagieren, auf Bomben, Panzer und Sirenen, auf Vertreibung und Verfolgung. Wie sie verführt werden von Lügen und Ideologien. Die Geschichte wiederholt sich, das Gift der Propaganda wirkt noch immer, für die Menschen tun sich moralische Konflikte auf.

Kino: "Das Glaszimmer": Felix (Xari Wimbauer) möchte als Neuer im Dorf kein Außenseiter sein und ordnet sich mehr und mehr den Nazi-Machenschaften des Nachbarjungen Karri (Luis Vorbach) unter.

"Das Glaszimmer": Felix (Xari Wimbauer) möchte als Neuer im Dorf kein Außenseiter sein und ordnet sich mehr und mehr den Nazi-Machenschaften des Nachbarjungen Karri (Luis Vorbach) unter.

(Foto: Jürgen Olcyk (oh))

Aber zunächst einmal haben Mutter und Sohn Glück im Unglück: Felix (Xari Wimbauer) und Anna (Lisa Wagner) fliehen in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs aus dem zerbombten München in ihr niederbayerisches Heimatdorf. Dort beziehen sie ein Haus mit Dach, darunter befindet sich auch ein magisch funkelndes Glaszimmer, das für Felix zum Rückzugsort wird. Der Krieg scheint weit weg, nur der Ortsgruppenleiter Feik (Philipp Hochmair) läuft in Nazi-Uniform herum und schikaniert die Leute. Das interessiert Felix aber nicht, der "Stadtbub" sucht nach Anschluss. Er freundet sich mit Feiks Sohn Karri (Luis Vorbach) an, die beiden Jungen nehmen an Wehrübungen und Feuerläufen teil, spielen "Westfront" oder "Häuserkampf". Für Felix ist das ein großes Abenteuer, bald glaubt er auch Feiks Geschichten vom angeblichen "Endsieg". Dann aber kehrt ein vermeintlich Gefallener zurück, und Felix muss entscheiden, auf welcher Seite er steht.

Die heutigen Jugendlichen sollen etwas damit anfangen können

Das klingt ein wenig nach Geschichtsunterricht und moralischem Erbauungskino, ganz freimachen davon kann sich der Film auch nicht. Gleichzeitig ist "Das Glaszimmer" aber noch Abenteuerdrama und Coming-of-Age-Story. "Ich wollte über die Macht von Verführung erzählen und die Folgen willkürlicher Machtausübung", sagt Christian Lerch an einem warmen Frühlingstag im Café des Münchner Literaturhauses. Die Zeitzeugen würden aussterben, da müsse man ihre Erinnerungen weitertragen. Doch jeder erinnert sich anders, das kann zu Meinungsverschiedenheiten führen - dazu aber später mehr. Lerch will zur Erinnerungsarbeit beitragen, macht das mit den Mitteln eines Kinofilms: "Die heutigen Jugendlichen sollen ja etwas damit anfangen können."

Der gebürtige Wasserburger ist ein großgewachsener Mann, der bescheiden auftritt. Vor ihm stehen ein Glas Wasser und ein Espresso, er erzählt lebendig und hört aufmerksam zu. Als vielseitig Talentierter schreibt, spielt und inszeniert er, angefangen hat er auf der Bühne. Seine Schauspielausbildung erhielt er in Graz, anschließend spielte er in München an den Kammerspielen und am Residenztheater. Im Fernsehen übernahm er Serienrollen in "Café Meineid" oder "Der Kaiser von Schexing", im Kino war er in "Räuber Kneißl" oder "Weißbier im Blut" zu sehen. Herbert Achternbusch und Franz Xaver Bogner arbeiteten mehrmals mit ihm zusammen, mit Marcus H. Rosenmüller feierte er seinen bislang größten Erfolg: Die bayerische Kinokomödie "Wer früher stirbt, ist länger tot" war 2006 ein Kassenhit, gemeinsam mit Rosenmüller gewann Lerch den Deutschen Filmpreis für das beste Drehbuch.

Kino: "Glaszimmer"-Regisseur Christian Lerch versetzt sich gern in die Gedankenwelt eines Kindes hinein.

"Glaszimmer"-Regisseur Christian Lerch versetzt sich gern in die Gedankenwelt eines Kindes hinein.

(Foto: Adrian Schätz)

Seit einigen Jahren führt der schreibende Schauspieler auch Regie, "Das Glaszimmer" wurde ihm vom Münchner Produzenten Robert Marciniak angeboten - vermutlich auch, weil Lerch sich mit Stoffen mit Kindern in den Hauptrollen auskennt. "Wobei wir bei 'Wer früher stirbt' gar kein Kind in der Hauptrolle vorgesehen hatten", erzählt der Mittfünfziger lachend. "Ursprünglich sollte es die Geschichte einer Rockband werden. Irgendwann haben wir das aber geändert und einen Buben in den Mittelpunkt gestellt." Für Rosenmüller schrieb er auch den historischen Kinderfilm "Die Perlmutterfarbe", am Kinderkinohit "Rico, Oskar und die Tieferschatten" war er ebenfalls beteiligt. "Den Erwachsenenblick habe ich ja immer", sagt der Vater von zwei erwachsenen Töchtern, "da versetzt man sich doch gerne in ein Kind hinein und erinnert sich an früher."

Der Autor Josef Einwanger wettert: "Der Film ist die Zerstörung meiner Geschichte."

Mit Erinnerungen ist das immer so eine Sache - womit wir wieder beim "Glaszimmer" wären: Die Vorlage dazu schrieb Josef Einwanger, sie beruht auf Kindheitserinnerungen des ehemaligen Lehrers und Schriftstellers ("Toni Goldwascher"). Dass es keine harmonische Zusammenarbeit werden würde, ahnte Lerch bereits beim ersten Treffen: "Josef Einwanger war mir gegenüber von Anfang an sehr skeptisch eingestellt." Das änderte sich auch später nicht mehr, das Drehbuch schrieb Christian Lerch alleine. Gedreht wurde noch vor der Pandemie, im Jahr 2019. Als er dem Schriftsteller "Das Glaszimmer" vorab in einer Privataufführung in Wasserburg zeigte, äußerte sich dieser laut Lerch ablehnend. Im Oberbayerischen Volksblatt wurde Einwanger letztes Jahr noch deutlicher: "Der Film ist die Zerstörung meiner Geschichte."

Der heute 87-Jährige empört sich über vermeintliche historische Unstimmigkeiten, außerdem seien zentrale Szenen seines Buchs nicht verfilmt worden. Mittlerweile hat er die Geschichte als Roman umgearbeitet, "Das Glaszimmer und ein Brief an den Führer" erschien vergangenes Jahr. Ganz neu sind solche Auseinandersetzungen aber nicht: Lothar-Günther Buchheim etwa wetterte über die Adaption von "Das Boot", Michael Ende ärgerte sich über "Die unendliche Geschichte", manche Autoren zogen aus Unzufriedenheit mit der Verfilmung ihrer Bücher vor Gericht. Christian Lerch ist mit seinem Werk zufrieden und freut sich darauf, dass "Das Glaszimmer" nach zwei langen Pandemiejahren am 28. April endlich anläuft. Ob die Aktualität des Stoffs Auswirkungen auf die Besucherzahlen haben wird, bezweifelt er aber: "Das ist doch eher unwahrscheinlich, dass jemand genau deswegen ins Kino geht."

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