Süddeutsche Zeitung

Kino:Die beste Zeit ihres Lebens

In "Nellys Abenteuer" erlebt eine deutsche Familie in Siebenbürgen ihr blaues Wunder. Der aus München stammende Dokumentarfilmer Dominik Wessely drehte sein Spielfilmdebüt teilweise in einem Roma-Dorf

Von Barbara Hordych

Ein schönes 13-jähriges Mädchen mit langen blonden Haaren reitet auf einem Pferd ohne Sattel, hinter ihr sitzt ein Junge, der bis über beide Ohren in sie verliebt ist. Was wie eine Sequenz aus einer jener beliebten Mädchen-Pferde-Coming-Out-Geschichten à la "Ostwind" oder "Bibi & Tina" klingt, hat in der jetzt anlaufenden Familienkomödie "Nellys Abenteuer" einen etwas anderen Hintergrund. Zwar teilt ein Hotelangestellter im rumänischen Sibiu den aufgeregten Eltern der verschwundenen Nelly (Flora Li Thiemann) kategorisch mit: "Ein blondes deutsches Mädchen und ein dunkelhaariger Roma-Junge zusammen auf der Flucht - das gibt es nicht!" Doch genau diese scheinbar unmögliche Konstellation ergibt sich in "Nellys Abenteuer", in dem die Titelheldin, begleitet von ihrem Roma-Freund Tibi, eine Verfolgungsjagd in Transsilvanien erlebt.

Auslöser für Nellys Verschwinden ist ihre Entdeckung, dass der Sommerurlaub der dreiköpfigen Familie Klabund aus Schwäbisch Hall einen ganz speziellen Grund hat, den ihre Eltern Anne (Julia Richter) und Robert (Kai Lentrodt) ihr wohlweislich verheimlichten. Vater Robert will in Sibiu für seine Firma Windräder bauen, weshalb in naher Zukunft der komplette Familienumzug nach Transsilvanien geplant ist. Was Nelly derart empört, dass sie ihren Eltern ausbüxst und auf eigene Faust durch Sibiu läuft. Prompt wird sie dabei erst von den Geschwistern Roxana und Tibi bestohlen. Und dann auch noch von zwei zwielichtigen Gestalten gekidnappt und in ein Roma-Dorf verfrachtet. "Das Dorf, in dem wir gedreht haben, gibt es in Siebenbürgen wirklich - sogar der einzige Wasserhahn dort, an dem sich alle die Zähne putzen und waschen, war echt", erzählt Flora Li Thiemann, die Darstellerin der Nelly, bei einem Treffen im Anschluss an die Deutschlandpremiere beim diesjährigen Filmfest München, wo "Nellys Abenteuer" die Reihe Kinderfilm eröffnete.

Fünf Wochen lang drehte der Regisseur Dominik Wessely mit seinem Team in Rumänien, davon eine Woche in einem Roma-Dorf. "Ich habe bewusst ein Dorf gewählt, das sozusagen hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen liegt; das so abgeschieden ist, dass Nelly wie auch den Zuschauern sofort klar ist: einfach abhauen und in die nächste Stadt laufen, das geht hier nicht". Nelly muss sich also wohl oder übel eine Zeitlang auf die Menschen im Dorf einlassen, in dem sie auch die Geschwister Tibi und Roxana wiedertrifft - die ihr schließlich zur Flucht verhelfen.

Die realen Dorfbewohner, insbesondere die Kinder, spielten als Komparsen mit. "In einer Szene sollten sie es mir nicht so einfach machen, wenn ich an ihnen vorbei will. Nach dieser Aufforderung hatte ich keine Chance mehr. Wahrscheinlich wachsen diese Kinder erst mal freier auf und sind viel mehr auf sich gestellt und dadurch so spielbegeistert und unmittelbar", sagt Julia Richter, die im Film als Nellys Mutter Anne zu sehen ist. "Aber je größer und älter sie werden, um so mehr sieht man ihnen ihre Probleme an, weil sie ihre Ausgrenzung zu spüren beginnen."

Eine Erfahrung, die Dominik Wessely bestätigt. "Der Rassismus in Rumänien gegen Roma ist tief verwurzelt." Insgesamt habe sein Team sich zwar sehr gut verstanden. "Aber es gab zwei, drei Situationen, in denen die Roma-Darsteller von rumänischen Mitarbeitern derart beschimpft wurden, dass ich dazwischengehen musste." Bei der Besetzung legte der in München geborene und heute in Berlin lebende Regisseur Wert auf Authentizität. So ist Nellys Verehrer Tibi, der ein Jahr ältere, aber einen Kopf kleinere Hagi Lăcătuş, ein Roma. Die Casterin entdeckte ihn im Zuge eines Fernsehauftritts, bei dem er Zauberkunststücke vorführte. "Tatsächlich zieht Hagi abends durch die Kneipen, zeigt Kartentricks und trägt damit zum Unterhalt seiner Familie bei", sagt Wessely. Auch Raisa Mihai, die Tibis ältere Schwester Roxana spielt, und Marcel Costea, der den Entführer Hokus mimt, sind Roma. Mit der Besetzung der "Mutter Roza" gelang Wessely ein kleiner Coup. Rona Hartner ist zwar Rumänin, aber seit sie vor zwanzig Jahren in Tony Gatlifs Film "Geliebter Fremder" die Romni Sabina verkörperte, "so etwas wie eine Schutzheilige der Roma", sagt Wessely. "Als ich sie in Paris besuchte, plünderten wir ihren Kleiderschrank - jetzt trägt sie als Mama Roza noch einmal die Kostüme, die sie auch als Sabina trug."

Die Dorfszenen sind frei von mystifizierender "Zigeuner-Romantik" und lassen die frühere Dokumentarfilmtätigkeit des Regisseurs durchscheinen. Der hatte sich nach einigen Semestern an der LMU München dafür entschieden, "lieber Geschichten zu erzählen als Geschichte zu studieren", wie er sagt. Er wechselte an die Filmakademie Baden-Württemberg zum Fach Dokumentarfilm; seit seinem Abschluss arbeitet er als Autor und Regisseur, parallel unterrichtete er als Professor für Dokumentarfilmregie an der Filmschule Köln. In seinem Spielfilmdebüt "Nellys Abenteuer" entwickeln die einfühlsam wie witzig inszenierten Interaktionen zwischen Nelly und Tibi einen besonderen Charme. Sie sorgten denn auch beim Transilvania International Film Festival in Rumänien, aber auch beim europäischen Giffoni Kinderfilmfestival, wo "Nellys Abenteuer" in der Kategorie "10+" als bester Film gewann, für Begeisterung bei den jungen Zuschauern: "Sie klatschten und jubelten wie verrückt bei jeder Szene zwischen Tibi und Nelly", erinnert sich Flora Li Thiemann.

Freilich bestand die Gratwanderung in dem Film darin, ein ernstes Thema wie Entführung nicht zu angsteinflößend zu gestalten. "Deshalb haben wir nach einer Mischung gesucht, in der unsere Sorge um Nelly meist eher chaotisch und komisch ist", sagt Film-Mutter Anne alias Julia Richter. "Schließlich hat Nelly parallel zu der Suche ihrer besorgten Eltern die beste Zeit ihres Lebens." Und weil das junge Publikum das auch miterlebe, relativierten sich dessen Ängste um Nelly. "Lieber Abenteuer statt Reihenhaus", verkündet Mutter Klabund am Ende des Films als Devise für den Aufbruch in ein neues Leben. So blieb dem Regisseur Wessely nichts anderes übrig, als Nachmieter für die Familie Klabund zu suchen. Weshalb er, seine Frau und ihre beiden Söhne zum Schluss in einem Cameo-Auftritt deren Reihenhaus in Schwäbisch Hall übernehmen.

Nellys Abenteuer, D/Rumänien 2016, Regie: Dominik Wessely, läuft von Do., 8. Sept., an in mehreren Münchner Kinos, siehe Programm auf dieser Seite

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SZ vom 08.09.2016
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