Süddeutsche Zeitung

Kino:Auf Wiedersehen

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Nach 30 Jahren wiederholt Wolfgang Ettlich seinen Roadtrip in den Osten. "Deutschlandreise" ist womöglich sein letzter Dokumentarfilm

Von Marleen Beisheim

Einige Monate nach dem Mauerfall machen Wolfgang Ettlich und Kameramann Hans-Albrecht Lusznat einen Roadtrip ins Unbekannte, in die DDR. Zu einer Wiedervereinigung kommt es 30 Jahre später. Die beiden fahren die gleiche Route noch mal. Wolfgang Ettlichs Dokumentarfilm "Deutschlandreise", der an diesem Mittwoch bei den Hofer Filmtagen Premiere hat, spannt den Bogen von 1990 bis 2020.

Ausgerüstet mit einer neuen Kamera suchen die beiden die damaligen Kameraperspektiven auf. Ettlich, am Steuer, wird wie damals vom Beifahrersitz aus gefilmt, die Motorgeräusche im Hintergrund sind heute leiser, und man hört ein Navi. Damals hat Ettlich zu Lusznat gesagt: "Lass es laufen, wenn ich rede. Wenn ich auf der Straße Leute anspreche, musst du automatisch die Kamera laufen lassen." Und damals wie heute läuft die Kamera, wenn sich Passantinnen und Hähnchenverkäufer von ihm ausfragen lassen und sich ihm öffnen.

Seit seiner ersten Reise in die DDR ist er immer wieder Richtung Osten gefahren und hat darüber nach zehn und 15 Jahren Dokumentarfilme gemacht. Solche Langzeitbeobachtungen sind es, die Ettlich interessieren. "Bei anderen Themen war es immer spannend, alle halbe Jahre hinzukommen und zu schauen, wie sich der Mensch und der Ort verändert. In einer Langzeitdokumentation kriegst du einfach mehr ein gewisses Lebensgefühl mit, wie und warum es sich verändert", so Ettlich. Der Regisseur und Drehbuchautor ist bekannt für seine filmischen Langzeitbeobachtungen. 2017 erhält der Dokumentarfilmer den Filmpreis der Stadt Hof. Nach Hof kehrt er nun also auch wieder zurück.

Mit "Deutschlandreise" geht der 73-Jährige über den eigenen zeitlichen Horizont hinaus, zeigt Zukunftsträume und Schicksalsschläge. Sein Blick auf den Osten dokumentiert den Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus anhand von Menschen. "Alles war mehr oder weniger staatlich. Und so war das natürlich spannend zu sehen, wie sich die Menschen an den sogenannten Kapitalismus, an die freie Marktwirtschaft gewöhnen", sagt Ettlich.

Zschopau 1990 - graue Fassaden in den Straßen südöstlich von Chemnitz. Jürgen und Karin Schütze leiteten in der DDR einen Konsumladen. Einige Monate nach der Grenzöffnung erfüllen sie sich ihren Traum und machen sich selbständig. Aus der Garage verkaufen sie Obst und Gemüse. Davor warten Menschen in einer langen Schlange auf dem Gehweg. Ettlich verfolgt Schützes Weg in den Kapitalismus. Aus dem Garagenverkauf wird ein Feinkostladen. Zschopau 2020 - restaurierte Fassaden und nach außen eine bunte Kleinstadt. Einige haben wirtschaftlich zu kämpfen, denn der Hauptarbeitgeber der Stadt, ehemals VEB MZ - Motorradwerk Zschopau, ist weggefallen. Schützes ehemalige Lagerräume sind weiß gestrichen und leer. Discounter haben ihren Feinkostladen verdrängt. Was Karin Schütze bleibt, ist ein Kredit. Jürgen ist verstorben. Die Tochter ist, wie viele junge Menschen, weggezogen. Viel Zeit zum Verarbeiten dieser persönlichen Einblicke in ein Leben zwischen zwei Wirtschaftssystemen bleibt nicht. Die Fahrt geht weiter. Am Bahnübergang fährt ein Güterzug vorbei. Zwischen den Waggons blitzt eine digitale Anzeigetafel durch. Schnitt. In schlechterer Bildqualität öffnen sich die Halbschranken. Ettlich und Lusznat fahren an Trabbis vorbei, im Radio klingt die Sendung "Melodien von vorgestern".

Im Film fragt Ettlich nach dem Gefühl der Menschen 30 Jahre nach der Wiedervereinigung. Er selbst sagt: "Man darf nicht über Dresden, Leipzig oder Chemnitz reden; aber in den Kleinstädten, an der Grenze zu Polen, da hauen die Leute Richtung Westen ab. Und es ist eigentlich immer Thema, warum Deutschland es nicht geschafft hat, eine wirtschaftliche Gleichberechtigung zu schaffen." Ein Taxifahrer in Forst in der Lausitz erzählt von Ungleichheiten bei Rente und Löhnen und sieht das als Ursache für eine wachsende AfD-Wählerschaft. Zwei AfD-Wählerinnen, Mutter und Tochter, kommen auch zu Wort und äußern sich fremdenfeindlich - eine Diskussion gibt es nicht. "Die Statements lasse ich so stehen und dann muss der Zuschauer darüber nachdenken", so Ettlich. Zurück im Auto reflektiert er über schockierende, städtebauliche und emotionale Begegnungen. Herzliche Umarmungen und ein großes Lächeln zeigen, dass über die Jahre Freundschaften entstanden sind. Der Film handelt nicht nur von 30 Jahren Wiedervereinigung, sondern eben auch von Zwischenmenschlichem.

Eine weitere Wiedervereinigung in Form einer Dokumentation ist unwahrscheinlich. Über seine Zukunft als Filmemacher sagt er: "Ich glaube das ist der letzte Film, außer Gerhard Polt oder Familienministerin Franziska Giffey würden sagen: 'Wolle, wir machen jetzt doch einen Film'."

Deutschlandreise , Mi., 21. Okt., 13.30 Uhr und 14.30 Uhr, Do., 22. Okt., 18 Uhr, Scala Filmtheater Hof; außerdem bei "Hof On Demand", bis So., 1. Nov., www.hofer-filmtage.com

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Quelle:
SZ vom 21.10.2020
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