Kindernotfalldienst:Mit Tempo 120 durch die Stadt

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Der rasende Kinderarzt vom Notfalldienst in München hilft kleinen Patienten in Not. Auf dem Weg zu ihnen düst er auch über rote Ampeln.

Christina Warta

Und plötzlich piept das kleine schwarze Kästchen in der Jackentasche von Sebastian Zimatschek. Ohne ein Wort rennt der Notarzt in die Zentrale, das Notfallfax holen.

Notarzt Sebastian Zimatschek (links) und Rettungsassistent Christian Hankofer versorgen eine kleine Patientin. (Foto: Foto: Haas)

20 Sekunden später ist er zurück, in der Hand ein Blatt Papier. Der Motor läuft schon, Christian Hankofer sitzt angespannt hinter dem Steuer, Zimatschek wirft sich auf den Beifahrersitz. "Unterföhring", gibt Zimatschek in das Navigationsgerät ein.

In einer Kinderkrippe hat ein dreijähriger Junge zu Mittag Fisch gegessen - nun hustet er, hat dicke Schwellungen im Gesicht. "Mehr wissen wir nicht", sagt Zimatschek, "vermutlich eine allergische Reaktion." Hankofer gibt Gas.

Es war bislang ein ruhiger Tag in der Hauptfeuerwache beim Sendlinger Tor - zumindest für den Kindernotarzt. Die Löschzüge sind ausgerückt, doch der Pieper des Kindernotarztes blieb stumm. "Normalerweise haben wir durchschnittlich sechs oder sieben Einsätze in 24 Stunden", sagt Zimatschek.

Diesmal ist es anders, wohl wegen der Ferienzeit: In den vergangenen 42 Stunden gab es gerade mal einen Einsatz. Und das, obwohl das Einsatzgebiet bis ins Umland reicht.

Das geländegängige Einsatzfahrzeug, das in der Hauptfeuerwache zwischen dem Neugeborenen-Notdienst und einem Rettungswagen geparkt ist, ist eine Münchner Spezialität. Vier Kinderkliniken gibt es, deren Ärzte im Wochenrhythmus den Kindernotarztdienst leisten: das Schwabinger und Harlachinger Krankenhaus, die Kinderklinik Dritter Orden und das Haunersche Kinderspital. In dieser Woche sind die Ärzte des Haunerschen an der Reihe.

Unterstützt wird jeder Arzt von einem Rettungsassistenten der Berufsfeuerwehr: Er lenkt den Wagen durch den Stadtverkehr und ist zugleich ein ausgebildeter Experte für Notfallmedizin. Seit 1990 gibt es den Kindernotarzt, seit 1997 ist er rund um die Uhr besetzt. Wenn jemand die "112" wählt und meldet, dass sich ein Kind in Not befindet, ist das Zwei-Mann-Team innerhalb einer Minute unterwegs - rund 2000 Mal im Jahr.

Giftig-rote Schwellung

So wie jetzt: Das Auto rast mitten am Tag durch die Straßen. Mütter schieben Kinderwägen, Radler sind unterwegs. Hankofer und Zimatschek sprechen nicht mehr: Der eine fährt hochkonzentriert, über seiner Nase hat sich eine tiefe Falte eingegraben, die vorher noch nicht da war. Der andere macht sich Gedanken über den Zustand, in dem er den Patienten vorfinden wird, und lässt das Navigationsgerät nicht aus den Augen.

Mit Blaulicht, Sirene und 120 Stundenkilometern geht es über die Widenmayerstraße und hinaus aus dem Zentrum. Hankofer schlängelt sich durch, überfährt rote Ampeln und steuert, wenn die rechte Spur blockiert ist, auf die Gegenfahrbahn.

"Du fährst anders, wenn du weißt, dass ein Kind in Not ist", wird Christian Hankofer später sagen, "du fährst einfach mit mehr Druck." Wo das Einsatzfahrzeug auftaucht, erstarrt der Verkehr: Verschreckt schauen die Menschen durch ihre Windschutzscheibe, bremsen ihre Autos, steuern an die Seite.

Knapp zehn Minuten später bremst Christian Hankofer vor der Kinderkrippe. Der Rettungswagen einer nahegelegenen Feuerwache ist kurz zuvor angekommen - er kommt immer zusätzlich zum Kindernotarzt. Im hinteren Raum sitzt eine Betreuerin und hat einen kleinen, blassen und blonden Jungen mit erschöpften Augen auf dem Arm. Unter seinem linken Auge hat sich eine dicke, giftig-rote Schwellung über die ganze Wange hinab gebildet. Man spürt die mühevoll unterdrückte Aufregung im Raum.

Zimatschek beschaut den Jungen prüfend, fühlt seinen Puls, untersucht den Rachen, doch da ist nichts zu sehen - keine akute Erstickungsgefahr. Er setzt sich auf einen winzigen Kinderstuhl. "Wie heißt du denn?", fragt er. Die Betreuerin antwortet für das Kind: "Luis."

Sebastian Zimatschek ist seit 1997 als Kindernotarzt im Einsatz. Eigentlich ist er Anästhesist im Haunerschen Kinderspital, doch er hat stets auch als Notarzt gearbeitet: in der Bergrettung, im Erwachsenen- und natürlich im Kinderbereich. Diese Erfahrung strahlt er nun aus. Die Anspannung in der Kinderkrippe lässt spürbar nach, auch bei der jungen Ärztin, die als Praktikantin zusätzlich im Rettungswagen dabei war. "Die meisten Notärzte sind froh, wenn wir dazu kommen. Manche haben nicht so viel klinische Erfahrung in der Behandlung von Kindern ", sagt Zimatschek.

"Kinder sind keine kleinen Erwachsenen"

Denn es gibt diesen Satz, den man in der Kinderheilkunde immer wieder hört: "Kinder sind keine kleinen Erwachsenen." Auch Zimatschek sagt ihn: Intravenöse Zugänge seien oft schwieriger zu legen, "weil gerade bei den Kleinen die Ärmchen und Beinchen meist noch etwas speckig sind". Außerdem können kleine Patienten nicht sagen, was passiert ist und wo es weh tut. "Man muss auf die Zeichen achten, die das Kind durch seine Körpersprache gibt", sagt der Arzt.

Das Einsatzfahrzeug ist denn auch speziell für Kinder ausgerüstet: mit unterschiedlich großen Nadeln, Schläuchen und Infusionen. Medikamente werden je nach Gewicht verabreicht, zum Beispiel das Fenistil, das Zimatschek dem kleinen Luis verabreicht.

Ein Erwachsener würde eine Ampulle und damit vier Milligramm bekommen. Bei Luis wird zuerst das Gewicht geschätzt - etwa 15 Kilo. Pro Kilogramm werden 0,1 Milligramm verabreicht, also 1,5 Milligramm Fenistil. Christian Hankofer hat alles vorbereitet: das Fenistil, das Cortison - und einen steril verpackten Teddybären.

Im Rettungswagen lassen sich die beiden Notärzte von Zimatschek noch mal die Umrechnungsregeln erklären, die junge Ärztin blättert eifrig in einem Buch mit dem Titel "Notfallmedizin". Luis liegt auf der Trage und beäugt die medizinischen Geräte an der Wand. Er ist versorgt und wird ins Schwabinger Krankenhaus gefahren.

"Mit einer allergischen Reaktion ist nicht zu spaßen", sagt Zimatschek, "die Schleimhäute schwellen an, das kann im Rachenraum und in den tieferen Atemwegen zu lebensbedrohlichen Schwellungen führen - bis hin zum allergischen Schock, der tödlich enden kann." Diesmal ist es glimpflich ausgegangen.

Und auch die Einsätze später am Tag sind einigermaßen harmlos. Das Duo wird zu einem Mädchen gerufen, das sich am Riemer See einen offenen Unterarmbruch zugezogen hat. Anschließend geht es zu einem fünfjährigen Kind mit Insektenstich und allergischer Reaktion. Im Ungererbad stellt sich heraus: Nicht das Kind, sondern der 24-jährige Vater ist der Patient. "Solche undramatischen Einsätze speichere ich schnell wieder aus", sagt Sebastian Zimatschek.

Immense Belastung

Doch das ist nicht immer so - manchmal kommen die Kindernotärzte auch zu spät. "Das ist es, was bleibt", sagt der Arzt, "wenn ein Kind stirbt und man ihm nicht mehr helfen kann." Zum Beispiel, als er vor einem Jahr in eine Schwabinger Wohnung gerufen wurde, zu einem vier Monate alten Mädchen: "Es war klinisch tot, wir konnten es reanimieren und in das Kinderspital bringen."

Doch am Abend starb das Mädchen in der Klinik an den Folgen der Misshandlung - der Vater hatte seine Tochter erregt zu Tode geschüttelt und wurde dafür kürzlich zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Der Umgang mit derlei Erfahrungen ist schwierig. Hankofer und Zimatschek sind selbst Väter. "Kindernotdienst ist nie Routine", sagt der Rettungsassistent, "was man da erlebt, haut einfach rein." Und Zimatschek ergänzt: "Dass Notfälle oft aus ganz alltäglichen Situationen entstehen, macht einen demütig. Aber man muss sich mit dem Schicksal irgendwie abfinden."

Reden hilft bei der Verarbeitung

Die psychische Belastung bei Einsätzen ist oft immens: das Kind in Lebensgefahr, dessen Eltern in Panik. "Um das zu verarbeiten, hilft das Gespräch mit den Kollegen." Denn nur die können nachvollziehen, was auf die Ärzte und Rettungsassistenten einstürmt.

Immerhin: Es gibt auch andere Einsätze. Zum Beispiel jener, als ein aufgeregter Vater die 112 gewählt hatte und immer nur "Der Bua, der Bua!" in den Telefonhörer stammelte. Man konnte ihm gerade noch die Adresse entlocken, der Kindernotarzt sauste los. Doch in der Wohnung fanden die Rettungsleute nur zwei ältere Herren: den Vater, der weit über 80 war, und dessen Sohn - er war 65.

© SZ vom 12.08.2008/lado - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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