Kinderkrippen:Mütter am Rande des Nervenzusammenbruchs

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Sie melden sich sofort nach dem Schwangerschaftstest an, warten dann zwei Jahre und gehen am Ende doch leer aus. Über den Irrsinn, in München einen Krippenplatz zu suchen.

Tina Baier

Manchmal muss Christiane Petermann tief durchatmen, bevor sie weiterarbeiten kann. Sie ist Leiterin einer städtischen Kinderkrippe in München, und jedes Jahr, wenn die Plätze vergeben werden, hat sie es mit verzweifelten Müttern zu tun. Die Frauen erklären, dass sie ihre Arbeit verlieren, wenn sie keinen Platz für ihr Kind bekommen, oder dass sie sich ihre Wohnung nicht mehr leisten können. Manche fangen an zu weinen, andere werden wütend, wenn sie erfahren, dass die Chancen schlecht stehen.

Schnulleralarm: Im Großraum München werden mehr Kinder geboren, Krippen werden beliebter. (Foto: Region.LKN)

"Für viele kann es der soziale Abstieg sein, wenn sie keinen Platz bekommen", sagt Petermann. 25 bis 30 Plätze werden in der Krippe in der Violenstraße jedes Jahr frei. Auf der Warteliste stehen 402 Familien. Und diese Krippe wird in der Stadtverwaltung als eine derjenigen genannt, die noch am wenigsten überlaufen sind.

Derzeit gibt es in München 11870 Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren. Das entspricht einem Versorgungsgrad von 29,9 Prozent. Darin enthalten sind aber auch private Betreuungsmöglichkeiten wie Tagesmütter - und es sind offensichtlich viel zu wenig.

Claudia Rickler leitet eine gut gelegene Kinderkrippe in Pasing: Auch sie hat zwischen 20 und 30 freie Plätze pro Jahr. "Jeden Montag zur Sprechzeit melden sich fünf bis 15 Familien an", berichtet sie. Momentan stehen knapp 700 Namen auf der Warteliste. "Es ist deutlich spürbar, dass sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert hat und der Druck auf die Frauen wächst", sagt Rickler. Zwei- bis dreimal pro Jahr kommt es vor, dass Frauen in ihrem Büro zusammenbrechen. "Ich meine richtige Zusammenbrüche", sagt sie. "Tränen fließen viel öfter."

Dabei ist es nicht so, dass die Stadt München nichts täte, um mehr Betreuungsplätze zu schaffen. Jüngst hat sie alle ihre Grundstücke unter die Lupe genommen - und 40 gefunden, auf denen bis 2013 neue Krippen gebaut werden sollen. "Prinzipiell haben wir das Ziel, dass jede Familie, die einen Krippenplatz möchte, auch einen bekommt", sagt Susanne Herrmann, Leiterin der Abteilung Kindertagesbetreuung im Sozialreferat.

Das Problem ist, dass die Stadt ein Defizit aufholen muss und dass gleichzeitig der Bedarf ständig steigt. "Nach der letzten Elternbefragung vor vier Jahren sind wir davon ausgegangen, dass wir den Bedarf decken können, wenn wir für 43 Prozent aller Null- bis Dreijährigen einen Platz anbieten", sagt Herrmann. Doch gerade läuft eine neue Befragung, und Herrmann ist sich ziemlich sicher, dass es schon wieder mehr geworden sind.

Das hat viele Gründe. Zum einen merken immer mehr Menschen, wie gut die Betreuung in den Kinderkrippen ist. Bei einer aktuellen Umfrage in Münchner Einrichtungen gaben 80 Prozent der Eltern an, sie seien mit der Betreuung ihrer Kinder "sehr zufrieden". Dazu kommt, dass in vielen Familien beide Eltern arbeiten müssen, um in München finanziell über die Runden zu kommen. Ein weiterer Grund für die steigende Nachfrage ist der Babyboom in der Stadt.

Dass München momentan noch weit davon entfernt ist, den Bedarf zu decken, liege gar nicht so sehr am Geld, sagt Herrmann. Das größere Problem sei, qualifizierte Erzieherinnen zu finden, die trotz niedrigen Einkommens ins teure München ziehen wollen. Regelrechte Werbekampagnen der Stadt sollen Personal anlocken. Das zweite Problem ist, in der dicht besiedelten Stadt geeignete Standorte für Einrichtungen zu finden.

Danièle Didier weiß, was das bedeutet. Nachdem sie für ihren Sohn Edgar in mehr als zehn städtischen Krippen Absagen erhalten hatte, bekam sie einen Platz in einer privaten Eltern-Kind-Initiative. Einziges Problem: Die Räume waren noch nicht ganz fertig. Zum Glück war Sommer, die Kinder wurden im Freien in einem Hinterhof betreut.

Doch bald stellte sich heraus, dass es noch Monate dauern würde, bis die Kinder ins neue Gebäude hätten einziehen können. Die ganze Gruppe kam in einem Pfarrhaus unter, dann in den Räumen einer ehemaligen Kita. "Leider war der Mietvertrag auf ein Jahr befristet", sagt Didier. Irgendwann fand sich ein altes Schulungszentrum am Josephsplatz. Ihr Mann, ein Architekt, hat den Umbau geleitet und dabei mehr als 1000 Arbeitsstunden investiert.

Nach welchen Kriterien die raren Plätze vergeben werden, ist in einer städtischen Satzung festgelegt. Die meisten Bewerber fallen in die Dringlichkeitsstufe zwei: Alleinerziehende, Hartz-IV-Empfänger und Eltern, die beide voll berufstätig sind. Bescheinigungen der Arbeitgeber sind bei der Anmeldung vorzulegen, sonst hat man keine Chance. Claudia Rickler hatte kürzlich überraschend einen Platz frei, weil eine Familie weggezogen war.

Die Frau, die als nächste auf der Warteliste stand, war überglücklich. Unglücklicherweise hatte sie zwei Wochen zuvor bei ihrem Arbeitgeber eine Verlängerung der Elternzeit beantragt, weil sie keine Betreuungsmöglichkeit für ihr Kind gefunden hatte. Die Firma wollte die Verlängerung nicht rückgängig machen. Keine Arbeitsbescheinigung - kein Krippenplatz. "Die Mutter war mit den Nerven am Ende", sagt Rickler. Haben zwei Familien dieselbe Dringlichkeit, entscheidet das Datum der Anmeldung.

"Bei meinem dritten Kind habe ich am Abend den Schwangerschaftstest gemacht und mich dann am nächsten Tag in der Kinderkrippe angemeldet", sagt Karin Camara, die bei Siemens einen Vollzeitjob hat. Doch Frauen, die ihr erstes Kind bekommen, wissen oft gar nicht, dass drei Tage hin oder her den Ausschlag geben können. Tatsache ist, dass eine Wartezeit von zwei Jahren keine Seltenheit ist.

Viele Mütter fassen die Anmeldung in der Krippe daher als eine Art Bewerbungsgespräch auf und bereiten sich entsprechend darauf vor: Baby nett anziehen, damit es niedlich aussieht; Baby möglichst kurz vor dem Termin noch stillen oder füttern, damit es ja nicht im falschen Moment anfängt zu weinen. Gut ankommen soll auch, wenn der Vater mitkommt zur Anmeldung - das lässt schließlich auf engagierte Eltern schließen, die vielleicht auch hin und wieder mithelfen.

Immerhin ist das Anmeldeverfahren einfacher geworden. Seit 2008 ist auf den Computern der städtischen Krippen "Vormerk-Soft" installiert. Mehr Plätze schafft die zwar nicht, aber Eltern müssen sich seitdem nur noch bei einer Krippe persönlich anmelden und können sich dann bei sechs weiteren auf die Warteliste setzen lassen. Davor musste man bei jeder persönlich vorsprechen.

Doch das neue System hat auch Nachteile: "Es kommt jetzt öfter vor, dass Familien, die hier um die Ecke wohnen, in einer weiter entfernten Krippe einen Platz bekommen; und hierher kommen dafür Kinder, für die eine andere Krippe günstiger gelegen wäre", sagt Petermann. Den meisten Eltern ist das egal, sie sind froh, dass sie überhaupt einen Platz ergattert haben.

Mit drei Jahren muss das Kind in den Kindergarten wechseln - einen Platz zu finden, ist in der Regel nicht ganz so schwierig. "Doch dann kommt das Kind in die Schule und alles geht wieder von vorne los", sagt Karin Camara. In der ersten Klasse ist der Unterricht oft schon vormittags zu Ende.

Die Grundschule, in die Camaras zweiter Sohn geht, hat immerhin ein Tagesheim mit Nachmittagsbetreuung. Bei der Anmeldung ein bekanntes Bild: verzweifelte Mütter, die um einen der raren Plätze kämpfen.

© SZ vom 29.06.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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