Keine Behinderung:Kunst für alle

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Im Raum "Ägypten (er)fassen", einer Dauereinrichtung des Staatlichen Museums Ägyptischer Kunst, dürfen alle Exponate berührt werden. (Foto: Robert Haas)

Das Ägyptische Museum ist für seine Barrierefreiheit ausgezeichnet worden. Blinde können dort Exponate berühren und so überhaupt erst erfassen, abgesenkte Treppenstufen etwa erleichtern nicht nur Rollstuhlfahrern den Besuch - sondern auch Eltern mit Kinderwagen

Von Katharina Kutsche

Man muss den Arm schon deutlich über den Kopf heben, um das obere Ende des Steins ertasten zu können. Auf der Oberfläche sind senkrechte Vertiefungen zu spüren, glatt und gerade - bis auf eine Stelle auf Höhe der eigenen, verbundenen Augen, dort erfassen die Finger einen runderen Ausschnitt mit schrägen Riefen. "Das sind die Haare der Figur", erklärt Roxane Bicker, "und die langen Vertiefungen hier sind die Beine." Während sie das Relief beschreibt, führt sie die Hand der Betrachterin zu den einzelnen Stellen: So entsteht nach und nach das Bild eines Ägypters, die Rillen ergeben ihren Sinn.

Bicker ist Ägyptologin und Museumspädagogin im Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst. Wenn sie Gruppen von Sehbehinderten und Blinden durch die Ausstellung führt, nimmt sie die Besucher nacheinander an die Hand und hilft ihnen zu ertasten, was deren Augen nicht oder nur unzureichend erfassen können.

Für sein barrierefreies Konzept hat das Ägyptische Museum am Montag das Signet "Bayern barrierefrei" erhalten. Museumsdirektorin Sylvia Schoske sagte bei dem Pressetermin, Barrierefreiheit im Museum herzustellen, "ist etwas, für das man einen langen Atem benötigt." Im letzten Jahr wurde die bestehende Induktionsanlage erweitert, das Museum schaffte einen Rollator an, der an der Kasse ausgeliehen werden kann, wie auch Rollstühle und Gehhilfen. "Für sich genommen sind das kleine Schritte", sagt Schoske, aber "wir wollen da breit aufgestellt sein." Die vielfältige Ausgestaltung lobt und betont auch Staatssekretär Johannes Hintersberger, der das Sigel überreichte. Besonders beeindruckt hat ihn der Anfassraum: "Wo gibt's das schon im Museum, etwas anzulangen?"

Berühren, das geht im Raum "Ägypten (er)fassen", einer Dauereinrichtung des Museums - dort steht auch das Relief, das Roxane Bicker zu Beginn beschreibt. An den Wandseiten sind reihum Exponate ausgestellt, die allesamt berührt werden dürfen, sowohl Skulpturen, als auch Reliefs. In der Mitte des Raums liegen unterschiedliche Gesteine auf einem Tisch. Jeweils eine Gesteinsseite ist angeschliffen, damit man die unterschiedlichen Oberflächen erspüren kann. Alle Tische sind so hoch, dass Rollstühle unter die Platte fahren können, die Schrifttafeln zu den Exponaten sind zusätzlich zu Deutsch und Englisch in Brailleschrift verfasst.

Durch das gesamte Museum führt eine in den Boden eingelassene, kupferfarbene Leitlinie. Sie unterstützt Menschen mit Blindenstock, hilft aber auch allen Anderen bei der Orientierung in den Ausstellungsräumen. Barrierefreiheit "bringt eigentlich immer etwas für alle Besucher", betont Direktorin Schoske. Aufzüge und abgesenkte Treppenstufen helfen Eltern mit Kinderwagen genauso wie Älteren und Menschen mit Gehbehinderungen.

Roxane Bicker führt Gruppen mit Handicaps möglichst früh durch die Ausstellung, "in ruhiger, konzentrierter Atmosphäre" - und kostenlos. Sie hat schon mit Inklusions-Klassen gearbeitet, etwa einer Klasse mit hörgeschädigten Kindern vom Münchner Gisela-Gymnasium. Von der Zusammenarbeit profitieren beide Seiten: Die Kinder erleben einen Museumsbesuch, die Museumsmitarbeiter können die eigenen Maßnahmen und Hilfestellungen ständig überprüfen. Im Auditorium läuft ein gemeinsam erarbeiteter Film mit einer Gebärdendolmetscherin, deren Texte die Schüler selbst eingesprochen haben. Die Rückmeldungen aller Gruppen sind positiv, freut sich Bicker: "Die Meisten sind vor allem glücklich, als vollwertige Besucher wahrgenommen zu werden".

© SZ vom 01.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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