Karlsruher Urteil:97-jähriger Mieterin darf nicht gekündigt werden - vorerst

Lesezeit: 3 min

  • Der Pfleger der Frau hatte die Vermieterin beschimpft, darauf folgte die fristlose Kündigung.
  • Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe entschied nun: Das Wohl der Dame steht vor dem Schutz des Eigentums.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Hani F. ist, das muss man anerkennend festhalten, ein mustergültiges Beispiel für praktizierte Nächstenliebe. Seit anderthalb Jahrzehnten kümmert er sich um eine alte Dame, seit 2007 - damals wurde sie dement - ist er ihr amtlicher Betreuer. In einem Zimmer neben ihrer Drei-Zimmer-Wohnung am Hohenzollernplatz in Schwabing wohnt er bei ihr zur Untermiete. Das Arrangement ermöglicht es der inzwischen bettlägerigen 97-Jährigen, in der Wohnung zu bleiben, die sie seit 1955 bewohnt. Das Betreuungsgericht sagt, er versorge sie "hingebungsvoll".

Jetzt aber ist der Fall vor dem Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe gelandet, und das hat mit einer anderen Charaktereigenschaft von Hani F. zu tun, die sein älterer Bruder entschuldigend so umschreibt: "Mein Bruder hat Temperament." Im Frühjahr 2015 hat der Hausverwalter ihn aufgefordert, ein im Hausflur abgestelltes Rad sowie eine Blumenvase zu entfernen, woraufhin Hani F. eine E-Mail schickte: "Ihr saudummes schreiben wg Rad & Vase ... ihr feindliche widerliche leute ... eure beschissene verschissene anfeindungskrakter." Die Vermieterin schickte eine fristlose Kündigung. Hani F. mailte zurück, sie seien "sehr gefährliche terroristen nazi ähnliche braune mist haufen auf eigener art!!!".

Hani F. ist 42 Jahre alt, 1996 als irakischer Christ vor Saddam Hussein nach Deutschland geflohen, seit zehn Jahren deutscher Staatsangehöriger. Drahtiger Typ mit Raubvogelblick, er trägt Cowboystiefel und eine US-Flagge auf der Jeansjacke. Am Rande der Karlsruher Verhandlung erklärt er, dass er seit Jahren von der Vermieterin angefeindet werde - als einziger in dem Sechs-Etagen-Haus. Das sei Psychoterror, schimpft er und vermutet finanzielle Absichten hinter der Kündigung; mit zusammen knapp 1300 Euro dürften die vier Zimmer für Schwabinger Verhältnisse eher günstig sein.

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Seine Mails seien letztlich nur eine vergleichsweise winzige Reaktion auf die existenzielle Bedrohung des Rauswurfs gewesen. Oder, wie er das ausdrückt: "Man darf ein Gramm nicht mit einer Tonne vergleichen." Schwer zu rekonstruieren, wer hier wen zuerst provoziert hat - eines aber steht bereits im Landgerichtsurteil: Schon 2007 und erneut 2010 hat die Vermieterin beim Betreuungsgericht versucht, Hani F. aus seiner Position als Betreuer herauszudrängen.

Das Problem an der Sache: Die verbalen Ausfälle waren, juristisch gesehen, auch der alten Dame zuzuordnen, deren Betreuer er ist. Rechtlich ist das also eine harte Nuss: Das Amtsgericht München hatte die Kündigungsklage abgewiesen, das Landgericht hatte ihr stattgegeben.

Karin Milger, Vorsitzende des BGH-Mietrechtssenats, ließ gleich zu Beginn der Revisionsverhandlung an diesem Mittwoch keinen Zweifel aufkommen: Wäre dies ein durchschnittlicher Mietrechtsfall, dann würden die Mieter vor die Tür gesetzt. "Grundsätzlich steht außer Frage, dass die wiederholte und grobe Beleidigung des Vermieters eine fristlose Kündigung rechtfertigen kann." Zugleich aber wurde deutlich: Das Mietrecht ist kein herzloses Regelwerk, das nur die Formel "Beleidigung heißt Rauswurf" kennt.

Leben geht vor Schutz des Eigentums

Maßgeblich sind vielmehr alle "Umstände des Einzelfalls" - der BGH kassierte das Kündigungsurteil am Ende ein. Denn das Landgericht habe "schwerwiegende persönliche Härtegründe" auf Seiten der Mieterin nicht berücksichtigt. Nun muss das Landgericht erneut verhandeln, vor allem über die Frage, welche Folgen ein Umzug oder der Wechsel des Betreuers für die alte Dame hätte. Man könnte auch sagen: ob sie das überleben würde. Dafür wird ein ärztliches Gutachten nötig sein.

Aus Sicht von Eugen Brysch von der Stiftung Patientenschutz ist das ein wichtiges Signal für solche Pflege-Arrangements. Damit stelle der BGH klar, dass auch die soziale Komponente berücksichtigt werden müsse. Sollte also ein Wohnungswechsel ihre Gesundheit gefährden, sind ihre Chancen in dem neuerlichen Prozess gut. Schon 2004 hatte der BGH entschieden, dass bei einer fristlosen Kündigung auch die Grundrechte des Mieters auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu berücksichtigen sind. Damals ging es um eine psychisch kranke Frau, die vorzugsweise nachts auf den Boden stampfte und gegen die Heizkörper schlug. Unerträglich eigentlich, und gewiss belastender als löschbare Mails - aber der BGH erklärte die Kündigung für unwirksam. Denn ein Gutachter hatte festgestellt, die Frau werde sich bei einer Räumung vermutlich das Leben nehmen. Wenn es um Leben und Tod geht, muss der Schutz des Eigentums ausnahmsweise hintanstehen.

© SZ vom 10.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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