„Kraftwerk“-Musiker Karl Bartos vertont Stummfilm-Klassiker:Wohlklang des Wahnsinns

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Der Wahnsinn greift um sich: Der Somnambule Cesare (Conrad Veith) sucht sich sein nächstes Opfer. (Foto: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung)

Karl Bartos zeigt seine neu vertonte Fassung des Ur-Psycho-Thrillers „Das Cabinet des Dr. Caligari“ zweimal im Prinzregententheater. Für den Elektro-Pop-Pionier ist der alte Irrsinn eine Metapher auf KI und die heutige Realität.

Von Michael Zirnstein

Wie klingt der Wahnsinn? Um das herauszufinden, ist Karl Bartos tief eingetaucht in einen Film ohne Töne, ohne Geräusche, ohne Stimmen, ohne Musik: den Stummfilm-Klassiker „Das Kabinett des Dr. Caligari“. Jenen bahnbrechenden Action-Psychothriller mit dem wohl ersten Plot-Twist der Kino-Geschichte, in dem der Regisseur Robert Wiene in einem Geflecht aus Ebenen und Realitäten vom mordenden Nachtwandler Cesare erzählt, der tagsüber vom Jahrmarktsbuden-Direktor Dr. Caligari als Zukunfts-Prophet vorgeführt wird (seine Gestalt hat Pop-Figuren von David Bowie bis Robert Smith von The Cure geprägt). Die „wahnsinnige Geschichte“, 1920 der „modernste, aktuellste, gewaltigste Film, den die Welt je gesehen hat“ (so die Zeitschrift Licht-Bild-Bühne damals), hält den studierten Klassik-Schlagzeuger, als Mitglied von Kraftwerk in die „Rock’n’Roll Hall of Fame“ aufgestiegenen Elektro-Pop-Pionier und akademischen Musik-Gelehrten schon lange in ihrem Bann.

Für Bartos ist der Film eine „Metapher auf das Hier und Jetzt“. Man könne darin viel über die verrückte Welt der Weimarer Republik erfahren: „Der Hof der Irrenanstalt ist die Gesellschaft damals. Dass der Geschichtenerzähler Francis, eine Art Sherlock Holmes, sich am Ende als Patient herausstellt, entsprach den Menschen, die feststellen mussten, dass ihre Welt aus den Fugen geraten ist.“ So wie heute: verworrene Wirklichkeiten, unfassbare Verbrechen, falsche Propheten und ihre Jünger, künstliche Intelligenz, die sich menschlich gibt. „Wir leben in einer Zeit der alternativen Fakten, die im vollen Bewusstsein, dass sie falsch sind, publiziert werden, nur weil man damit in der digitalen Welt Stimmen bekommt. Das unheilvolle Verhältnis von Caligari und Cesare haben wir billionenfach im digitalen Universum“, sagt Bartos.

Karl Bartos, 1952 geboren, wuchs in Berchtesgaden auf. Berühmt wurde er als „der Zweite von links“ der Düsseldorfer Elektro-Pop-Pioniere „Kraftwerk“. (Foto: PHILIPP RATHMER)

Wer da eine Technik-Skepsis heraushört, irrt freilich. Die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine war immer eines seiner Forschungsfelder: „Wir sind die Roboter“ tönte 1982 blechern auf dem Album „Die Mensch-Maschine“ seine einstige Gruppe Kraftwerk, wohl die einflussreichste deutsche Band der Pop-Geschichte. Der in Berchtesgaden aufgewachsene Bartos kam 1974 frisch von der Düsseldorfer Robert-Schumann-Hochschule als Live-Schlagzeuger zur Band, von 1978 bis 1990 war er neben Ralf Hütter der wichtigste Komponist der Gruppe (wenn Kraftwerk die elektronischen Beatles war, galt er, der Zweite von links, als deren George Harrison). Der von ihm erschaffene „Nummern-Beat“ wurde unter anderem von Afrika Bambaata als Ur-Code für den frühen Hip-Hop verwendet. Aber Computer waren für sie nie Selbstzweck, sondern Werkzeuge: „Wir hatten nie im Studio diese Synthesizer-Schränke, es ging uns nicht um die Herstellung, sondern um das, was dabei herauskommt, nämlich die Grundlage einer neuen Tanzmusik.“

Mit Kraftwerk erschuf Bartos schon einmal Musik zu einem Stummfilm: „Die Mensch-Maschine“ war 1977 inspiriert zumindest von Ausschnitten aus Fritz Langs „Metropolis“. Bartos’ Faszination für die kunstvollen, expressionistischen Werke der Zwanziger war geweckt, richtige Filmmusik aber komponierte er nie. Erst als er 2004 seinen „Sound Studies“-Studenten an der Berliner Universität der Künste die Aufgabe stellte, alte Stummfilme mit Klang zu illustrieren, kam ihm selbst die Idee für einen Soundtrack.

Den unterschiedlichen Räumen, durch die die Figuren wie Dr. Caligari (Werner Krauß) wandeln, hat Karl Bartos eigene Klangbilder gegeben. (Foto: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung)

Am Caligari hat er schließlich vier Jahre gearbeitet. Nicht, dass sich Bartos über das Komponieren in einen Wahn gesteigert hätte, er ist einfach perfektionistisch. Er konnte von null beginnen, denn der Film hat keine Tonspur, die Originalmusik von Giuseppe Becce („Der war ein Popstar seiner Zeit“) ist verschollen. „Erst wollte ich eine Filmmusik machen, die sich an meiner früheren Gruppe orientiert: Elektro und Pop.“ Das passte für ihn aber nicht zu den Bildern und zur Zeitspanne des Filmes, der vom 20. Jahrhundert bis ins 18. und zurück wieder nach vorn springt. Das wollte er abbilden durch Assoziationen von Bach’scher Romantik über Mozart bis Steve Reich und natürlich seinem Idol Strawinski, der als junger Mann eine Art Jazz und Ballettmusik schrieb – Bartos wiederum empfand die Caligari-Bilder, diese seltsam konstruierten zweidimensionalen Bewegungen als Ballett. Jedenfalls landete er so zwangsläufig bei einem Symphonie-Orchester – welches er synthetisch erzeugte. 800 einzelne Tonspuren kamen zusammen, für Musik und Geräuschkulisse.

Aber wie klingt der Wahn nun musikalisch? „Ich glaube, der Wahnsinn hat keine Dissonanz“, sagt der 72-Jährige, der einmal bereits den größenwahnsinnigen Komponisten Wagner mit dem Stück „Instant Bayreuth“ leuchten ließ. „Böse Menschen haben auch Lieder“, sagt er, „vielleicht herrscht in einem wahnsinnigen Gehirn nach einer schlimmen Tat ein gewisser Wohlklang, ein erlösendes Dur, weil er nach dem Mord seine Ruhe gefunden hat. Wir wissen es erst, wenn wir selbst wahnsinnig sind.“

Karl Bartos möchte an der Aufführung teilhaben, hier zusammen mit seinem Technischen Leiter Mathias Black bei der Uraufführung in der Alten Oper in Frankfurt. (Foto: Wonge Bergmann/Alte Oper Frankfurt/ Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden)

Bartos glaubt allerdings zu wissen, dass Wahnsinn „rein menschlich“ ist. „Man sagt nicht: Eine Maschine ist wahnsinnig. Man sagt: Sie ist kaputt.“ Für ihn ist auch KI nicht böse, sondern ein Werkzeug. Musikalisch sei sie für ihn nicht sonderlich aufregend, „wir haben schon mit dem Zufall gearbeitet, als wir noch analoge Instrumente hatten.“ Jedenfalls sollte auch die entwickelte künstliche Intelligenz „immer nur Co-Pilot sein“, findet er, „die Entscheidung liegt beim Menschen.“

Und der ist fehlerhaft. Am nächsten kam er den Abgründen der Psyche durch die menschliche Stimme. Der am Ende eben doch verrückte Geschichtenerzähler Francis habe „Kaleidoskop-Ohren“, so lässt Bartos dessen Welt „wie in einem Fiebertraum“ erklingen: Menschen um ihn herum (die gar nicht immer im Bild zu sehen sind) grüßen sich („Hummel, Hummel – Mors, Mors“) brabbeln durcheinander, mal gedehnt, mal „Faust“ zitierend, mal rückwärts sprechend: „Es ist eine musikalische Sprache, keine, die Inhalte transportiert.“

Wenn „Das Cabinet des Dr. Caligari“ jetzt in der hochauflösenden, restaurierten Fassung der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung auf großer Leinwand mit Bartos Musik im Münchner Prinzregententheater zu bestaunen ist, könnte der Komponist sich eigentlich im Sessel zurücklehnen. Er denkt gar nicht daran. Zusammen mit seinem Bühnenpartner Mathias Black wird er den Raum genau ausmessen und an die Instrumentengruppen anpassen. Wenn der Film läuft, stellt er sich an seine Keyboards und Regler und spielt Parts des Orchesters mit. „Ich möchte Teil an der Aufführung haben“, sagt er, „ich möchte persönlich als Mensch anwesend sein.“

Karl Bartos: Das Cabinet des Dr. Caligari, Samstag, 2. November, und Samstag, 15. Februar, München, Prinzregententheater

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