Kandinsky im Lenbachhaus:Näher, mein Kosmos, zu dir

Schwer zu überbieten: Die Münchner Galerie im Lenbachhaus zeigt das malerische Gesamtwerk von Wassily Kandinsky. Der Macht und dem Sog der Werke kann sich niemand entziehen.

Gottfried Knapp

Immer wieder New York, dazu Paris, Moskau, Nischni Nowgorod, Winterthur, Düsseldorf - wir sind im ersten Kompartiment der großen Kandinsky-Ausstellung im Kunstbau in München, wo es um die Münchner und Murnauer Jahre 1908 bis 1911 geht; wir glaubten diesen Werkkomplex aus den Sammlungen des Lenbachhauses bestens zu kennen, doch hier stammt nur ein einziges Bild aus dem Lenbachhaus selber.

Im Fortgang der Ausstellung wird sich das zwar ändern, doch die Präsenz der großen Museen deutet schon an, dass es in dieser Ausstellung um sehr viel mehr geht als um den "Blauen Reiter", den wir Deutsche so gerne isolierend herausstellen. Hier wird eine Hauptfigur der europäischen Kunstgeschichte an den Ort gerückt, der ihr zusteht: hoch über den Niederungen.

Ausstellungen, die das Gesamtwerk von Wassily Kandinsky präsentieren oder Teile daraus prägnant beleuchten wollten, hat es in den letzten zwei Jahrzehnten fast regelmäßig gegeben. Doch noch nie ist das malerische Gesamtwerk ausschließlich anhand der großformatigen Leinwandbilder, also jener von Kandinsky als gültig betrachteten Endversionen seines künstlerischen Schöpfens, dargestellt worden.

Zusammenarbeit dreier Sammlungsinstitute

Möglich wurde diese imposante Verdichtung auf oberstem Niveau durch die kollegiale Zusammenarbeit jener drei Sammlungsinstitute, die über die umfangreichsten Kandinsky-Bestände verfügen, bei bisherigen Sammelausstellungen aber eher eifersüchtig gegeneinander gearbeitet haben: die Städtische Galerie im Lenbachhaus München, das Centre Pompidou in Paris und das Guggenheim Museum in New York.

In dieser Reihenfolge werden die drei Kandinsky-Schatzhäuser in den kommenden Monaten auch die gemeinsam konzipierte Ausstellung zeigen, wobei jedes Haus den schwer überbietbaren Bilderkern um eine Zusatzausstellung mit kleineren Formaten oder Graphiken aus den eigenen Beständen ergänzen wird.

Das Lenbachhaus, das dank der Gabriele-Münter-Stiftung nicht nur über den umfangreichsten Bestand an Werken aus den Aufbruchsjahren vor dem Ersten Weltkrieg, sondern auch als einziges Haus der Welt über den gesamten Bestand an Druckgraphik verfügt, zeigt als Ergänzungsausstellung im Lenbachhaus zum ersten Mal seit 1966 wieder das umfangreiche druckgraphische Werk in all seinen Verästelungen - und liefert damit einen höchst aufschlussreichen Beitext zum Großereignis im Kunstbau, ja einen bildnerischen Kommentar, der sich fast wie ein Schlüssel zum Gesamtwerk genießen lässt.

Zerschlagung der Objekte

In seiner Graphik kommt Kandinsky dem angestrebten hohen Ziel - dem Absoluten, dem Geistigen, aber auch der formalen Abstraktion - immer einen kleinen Moment früher nahe als in den komplexen Gemälden der gleichen Epoche. Der Reduzierungsprozess im Formalen, den das drucktechnische Medium vom Künstler verlangt, ist sozusagen der erste Schritt auf dem Weg von der Figuration zur Abstraktion.

In seiner Münchner Zeit hat Kandinsky ausschließlich mit Holz- und Linolschnitt gearbeitet. Schon in den jugendstiligen ersten Blättern erreicht er mit elegant gesetzten Farbpunkten, Linien und ornamentalen Mustern eine Flächigkeit, die den angedeuteten Gegenstand weitgehend um seine Körperlichkeit bringt, ihn manchmal fast bis zur Aufhebung abstrahiert. Vor allem aber dort, wo er bis zu sechs verschiedene Farbblöcke übereinanderdruckt, also die Gegenstände aus quasi ungegenständlichen Farbpartikeln zusammenaddiert, ist er der Zerschlagung der Objekte schon sehr nahe.

Näher, mein Kosmos, zu dir

In der Zeit des "Blauen Reiter" ist er dann schon so weit, dass er die expressiven Figuren aus mehreren graphischen Mustern, die für sich genommen keinen Sinn ergeben, schichtweise übereinanderdruckt und so zu expressiven Chiffren zusammenschießen lässt, die den Gegenstand nur noch zum Anlass für freie Ausdrucksformen nehmen. In den Bauhaus-Jahren hat sich Kandinsky dann auch mit den Möglichkeiten der Radierung beschäftigt. Das nervös zuckende Kritzelwerk, zu dem ihn die Ritz- und Ätztechnik animierte, sprang, wie wir im Kunstbau sehen, auch auf die Malerei jener Jahre über. Einige der großen Ölbilder führen den Kampf, den der Linienmeister gegen den Farbmagier führte, in dramatischer Verdichtung vor.

Märchenhaft-altrussische Szenerien

Steigen wir also hinunter in den Kunstbau, hinauf auf die Gipfel, auf denen sich das Neue zu formieren beginnt. All die kleinformatigen Ölstudien nach der Natur, die farbgesättigten Ansichten der oberbayrischen Landschaft und die prangenden Visionen von Murnau, in denen Kandinsky seine Palette mit materialisiertem Licht und puren Primärfarben auflädt, sind hier ausgespart.

Dafür sind zwei der frühen Temperabilder mit märchenhaft-altrussischen Szenerien ausgestellt: Ihre Punkt- und Linienmuster auf dunklem Einheitsgrund lassen die abstrahierende Flächigkeit der Farbholzschnitte ins Monumentale wachsen; ihre morbid-matten Farben aber korrespondieren verblüffend lebendig mit den eigentümlich pastellig abgestuften Mischtönen der allerletzten abstrakten Kompositionen, die im Kunstbau - der Weg durch die Entwicklungsstadien führt an der linken Wand in die Tiefe und an der rechten wieder zurück - von der gegenüberliegenden Wand herübergrüßen.

In drei musikalische Kategorien hat Kandinsky, als er das Malen "nach der Natur" aufgegeben und sich seines Auftrags als freier Bildschöpfer, als Farbenmusiker und Formenkomponist versichert hatte, sein bildnerisches Schaffen eingeteilt: Seine "Impressionen" sollten malerisch spontan auf "Eindrücke äußerer Natur", also auf Erlebtes reagieren; seine "Improvisationen" auf Eindrücke innerer Natur horchen, also der Imagination folgen; und seine "Kompositionen" sollten beide Einflusssphären mischen, also auf höchstem spirituellem Niveau Phantasiegeborenes und der Realwelt Entlehntes zu etwas Anspruchsvoll-Neuem komponierend vereinen.

Doch so wohlüberlegt und streng diese Spielregeln auch klingen, beim malerischen Vollzug setzt sich Kandinsky so temperamentvoll über die eigenen Definitionen hinweg, dass der Betrachter nicht mehr entscheiden kann, in welchem Genre der Maler dem Abheben in die gegenstandsfreie Geisteswelt am nächsten kommt. Die "Impression III (Konzert)" von 1911 etwa könnte als die kühnste abstrakte Farbvision ihrer Zeit gefeiert werden, wenn Kandinsky nicht mit ein paar hineingesetzten schwarzen Strichen die freien lockeren Farbflecken umfangen und so an die Realität des erlebten Konzerts, an seine musikalische Aura zurückgebunden hätte.

Verblüffende Vielfalt

Bei den "Improvisationen", die eine verblüffende Vielfalt von thematischen und formalen Ansätzen aufweisen, stehen klar strukturierte wie die "Afrikanische" (1909), die zwei Menschen und ein Gebäude in kräftigen Umrissen vor frei flottierenden Farbflächen zeigt, und solche wie die Nummer "IV", deren Farbballungen sich präzisen Ausdeutungen entziehen, schroff nebeneinander.

Bei all diesen Bildern haben sich die Farben längst vom Kolorit der Objekte, die sie darstellen sollen, befreit. Sie folgen nicht mehr der Natur und den Tönungen der Realwelt, sondern ausschließlich bildinternen Gesetzen. Ja bald halten sich die Farbzonen nicht mehr an die Umrandungen der noch erkennbaren Gegenstände, sie greifen frech über deren Konturen hinaus. Es kommt zu einem Konflikt zwischen Farbflächen und den darübergezeichneten Umrissen, den sich der Maler gierig zunutze macht.

Er erkennt, welche Wirkungsmöglichkeiten der Gegensatz von Fläche und Linie bietet und befreit die beiden Elemente immer entschiedener von ihren gegenständlichen Pflichten. Eine Dreieckslinie, die eben noch den farbigen Gipfel eines Berges bezeichnet hat, wird, in den offenen Farbraum verschoben, zur freien graphischen Geste, zur Spielfigur, die überall einsetzbar ist, ja sich am Ende zum geometrischen Dreieck verdichten kann.

Näher, mein Kosmos, zu dir

So lässt sich am Motiv des Bergs, einem der Lieblingssujets Kandinskys, der allmähliche Abstrahierungsprozess schön nachvollziehen. Und auch die anderen Formen, die in den abstrakten Kompositionen ständig wiederkehren - die diagonale Linie, der Kreis, die lanzenförmige Figur - lassen sich motivisch zurückverfolgen bis in die Dingwelt des "Blauen Reiters". Wenn die abstrakten Formen der späteren Kompositionen also gegenständliche Assoziationen in uns wecken, dürfen wir durchaus mit dem Einverständnis des Erfinders rechnen.

Wie die Ausstellung "Kandinsky - absolut, abstrakt" Verbindungen herstellt und Entwicklungen nachvollziehbar macht, zeigt ein hübsches kleines Beispiel. Auf dem Gemälde "Improvisation Klamm" von 1914, das auf einen Besuch mit Gabriele Münter in der Höllentalklamm zurückgeht, hat Kandinsky unter einem hochexpressiven Geschlinge von Farbformen einen gut erkennbaren Steg und - winzig klein - ein bayrisch kostümiertes Paar gemalt.

Abschiedsgruß an Bayern

Da er kurz darauf wegen des Kriegsbeginns Deutschland verlassen musste, kann man dieses Paar als seinen Abschiedsgruß an Bayern und an seine Lebensgefährtin deuten. Auf einem der ersten Bilder, das er nach fast zweijähriger Schaffenspause 1916 in Russland malte, taucht dieses Paar mit Federhut und Dirndl auf einer Art Geländezunge vor der schräg nach unten rutschenden Kulisse Moskaus und vor dem bedrohlichen Gebirge des Kreml als heitere Erinnerung und Hommage an die Münter noch einmal zitathaft auf.

Künstlerisch war Kandinsky damals eigentlich schon einen Schritt weiter - und die russischen Konstruktivisten, die teilweise schon mit abstrakten Geometrien arbeiteten, bestärkten ihn in seiner Entwicklung. Er arbeitete nun mit dem Arsenal gegenstandsloser Formen, das er sich beim Zerlegen und Abstrahieren der Gegenstände erarbeitet hatte: mit frei flutenden Balken, Schleifen, runden und spitzen Formen, die durchaus noch zerfließen konnten.

Erst allmählich schieben sich die Gebilde zu fest umgrenzten, einheitlichen Formen zusammen; immer häufiger sind sie auf geometrisch zugeschnittene Farbfelder postiert - und 1922, im Jahr, in dem Kandinsky von Moskau nach Weimar umzieht und im Bauhaus zu lehren und zu arbeiten beginnt, verlegt er das Spiel der sich ausbalancierenden Form- und Farbgewichte erstmals auf eine farblich neutrale Bildfläche, kappt also die letzte Verbindung zur Vorgängerrealität, zu den Genres Landschaft und Figurenbild, von denen er ausgegangen ist.

Konzept der abstrakten Kunst

Im Bauhaus systematisiert Kandinsky sein Konzept der abstrakten Kunst - sowohl in der bildnerischen Praxis als auch in der Theorie. Die geometrischen Urformen Kreis, Dreieck und Quadrat und die Grundfarben Gelb, Rot und Blau bekommen ihre dominanten Rollen im Kräftespiel der Geometrien zugeteilt. Doch das neue Denksystem behindert den Maler nicht bei seinem Versuch, eine neue Leichtigkeit, ja Schwerelosigkeit auf der Bildfläche zu erreichen. Er nimmt Masse heraus, lässt immer größere Flächen zwischen den Binnenformen leer und spielt, wie in "Einige Kreise" (1926), virtuos mit Varianten einer einzigen Form. Dabei entdeckt er den dunklen Einheitsgrund als magischen Tiefenraum, er sieht, dass sich dieses Dunkel bis ins Kosmische dehnen lässt und setzt den Effekt später in seinen Pariser Abstraktionen immer wieder mit raumschaffender Wirkung ein.

Nimmt man noch die organisch-amöbenhaften Figuren in den Pariser Bildern hinzu, die sich wieder dem Gegenständlichen zu nähern scheinen, oder die gedämpften Farben, die den Bogen gar zu den russischen Anfängen zurückschlagen, bekommt der Kampf, den Kandinsky als Maler lebenslang mit der Materie ausgefochten hat, eine geradezu überwältigende Logik. In der gewaltigen Bilderfolge der Münchner Ausstellung jedenfalls kann sich niemand der Macht und dem Sog dieser bildnerischen Entwicklung entziehen.

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