Premiere an den Kammerspielen:Staatsfeind oder Opfer

Premiere an den Kammerspielen: Servan Durmaz, Şafak Şengül und Sebastian Brandes (von links) jonglieren Text und Handlung mühelos durch den Abend.

Servan Durmaz, Şafak Şengül und Sebastian Brandes (von links) jonglieren Text und Handlung mühelos durch den Abend.

(Foto: Kerstin Schomburg)

Ayşe Güvendiren erzählt in "Die Geschichte von Goliat und David" von Halim Dener, der 1994 von einem Polizisten in Hannover erschossen wurde. Ein mutiges Projekt mit Hindernissen.

Von Christian Jooß-Bernau

Der 16-jährige Halim Dener starb am Abend des 29. Juni 1994. Ein SEK-Beamter schoss ihm auf dem Steintorplatz in Hannover in den Rücken. Dener hatte dort Plakate einer PKK-Organisation geklebt. "Die Geschichte von Goliat und David" hat die Regisseurin Ayşe Güvendiren ihre Theaterrecherche zu diesem Fall genannt. Eine Koproduktion mit dem Schauspiel Hannover, die im Werkraum der Kammerspiele nun auch ihre München-Premiere hatte.

Als Stimme tritt die Regisseurin selber auf - als eingespielte Sprachnachricht, die sie aus der Türkei, unterwegs zu Deners Familie wohl an ihre Therapeutin schickte. Von der Angst spricht sie, von der sie sich nicht ausbremsen lassen will. Bevor man versucht ist, dies für einen Theatereffekt zu halten, erzählen einem die drei Schauspieler, dass Halims Bruder am 13. Dezember 2022 in der Türkei verhaftet wurde. Terrorverdacht, den ein belegbares Alibi leicht entkräften könnte. Die Vergangenheit, sie gibt keine Ruhe.

Die Geschichte um Halim Deners Tod ist ein Minenfeld, und der Hindernislauf zur Inszenierung wird auf der Bühne in der Vielfalt der einzelnen Stimmen dokumentiert. Die einen machen Dener zum Märtyrer, die anderen zum Staatsfeind und Terroristen. Und dann sind da die deutschen Beamten, die dem Todesschützen die Gelegenheit gaben, sich Schmauchspuren von den Händen zu waschen. Gespielt wird auch das Verhör, in dem der Beamte darlegt, wie es zum Schuss kam, der sich aus einer Bewegung heraus gelöst haben soll.

Als non-binäre Wesen können die Schauspieler mühelos die Rollen wechseln

Sebastian Brandes, Servan Durmaz und Şafak Şengül stecken in mattgrünen Anzügen, die Theresa Scheitzenhammer etwas zu groß geschnitten und wohl leicht gepolstert hat. Sie entformen die Körper. Alle tragen Augen-Make-up und Rouge. Non-binäre Wesen, die ohne jede Irritation die Rollen wechseln können. Mikaîl Ezîz spielt im Hintergrund meist die Bağlama und ist unaufdringliche Anspielstation und klanglich verbindendes Element der drei im Vordergrund, die mühelos Text und Handlung jonglieren.

Visuelles Zentrum der Bühne ist ein drehbarer achteckiger Pavillon in verchromter Optik, errichtet auf einem Stahlgitter, wie man es über Lüftungsschächten findet. Über allen acht Seiten ein Leuchtschriftzug, der in voller Beleuchtung "Sagen Sie" verkündet, aber auch nur zu "Sage" oder "Sag nie" werden kann. Auf den Pavillon werden Zeitungsausschnitte projiziert und ein "Spiegel TV"-Video, das zeigt, wie wackelig die Aussage des SEK-Beamten war. Die Pavillonwände taugen zum Schattenspiel und werden zum Tatort. Verschwenderisch rasant, aber immer zweckgebunden ziehen einen die theatralen Mittel durch die eineinhalb Stunden.

Nur eines funktioniert nicht: ausgerechnet der titelgebende Versuch, in all der Fülle das Allgemeingültige, Mythische zu finden. David und Goliat treten einem ganz volksnah bekannt in einem Lied von Matthias Claudius entgegen: der Kampf des israelitischen Hirtenjungen gegen den riesigen Philister. Im Laufe des Abends wird die Geschichte mehrmals gewendet. Wer war hier Täter und wer Opfer? Stimmt die überlieferte Sicht der Dinge? Aber aus Halim Dener wird so und so kein David - weder mit List, noch mit Tücke. Und aus dem Polizisten kein Goliat in all seiner Macht und Ohnmacht. Hier kämpft niemand, hier siegt niemand. Hier liegt am Ende ein toter Junge auf dem Boden. Was bleibt sind dramaturgische Verrenkungen, die dem Abend etwas von seiner Energie entziehen.

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