Projekt an den Kammerspielen:Fühlend durch die Welt

Lesezeit: 3 Min.

Unter anderem für ihre Rolle in "Wer immer hofft, stirbt singend" wurde Johanna Kappauf nun ausgezeichnet. (Foto: Maurice Korbel)

In den Kammerspielen startet ein literarisches Projekt: Eine Redaktion sucht nach künstlerischen Bewertungsmaßstäben für die Arbeit kognitiv beeinträchtigter Autorinnen und Autoren.

Von Magdalena Zumbusch

Die Themenauswahl der neuen Kammerspiele-Redaktion ist in vollem Gange: Von zahmen Vorschlägen wie "Zusammensein" bis zu ausgefallenen Titeln wie "Perlen und Wölfe" ist viel dabei. Es ist die erste Sitzung: Fünf Redaktionsmitglieder mit und ohne kognitive Beeinträchtigung werden hier Texte redigieren. Auch die Gruppe der Schreibenden ist aus Menschen mit und ohne Beeinträchtigung zusammengesetzt. Es geht also um einen Austausch. Wie funktioniert diese Zusammenarbeit am besten? Und was brauchen kognitiv Beeinträchtigte, um gut arbeiten zu können? Diese Fragen stehen im Raum. "Wer bin ich?", bringt dann noch jemand als Themenvorschlag auf den Tisch. "Eine Perle!", ruft der Teilnehmer mit dem "Perle und Wölfe"-Vorschlag dazwischen und bringt alles zum Lachen.

Besondere Charaktere sind alle fünf Redaktionsmitglieder. Regina Kögler, die im "Kreativlabor Pfennigparade" in München als Schauspielerin arbeitet. Matthias Brücker, Ensemble-Mitglied am Hora Theater in Zürich. Und Dennis Seidel, Schauspieler des Hamburger Kollektivs "Meine Damen und Herren". Die drei sind auf dem zweiten Arbeitsmarkt beschäftigt, der in sogenannten Werkstätten für körperlich und kognitiv Beeinträchtigte sichere Arbeitsplätze mit strukturiertem Tagesablauf bietet. Und Johanna Kappauf und Fabian Moraw, die als Ensemblemitglieder der Kammerspiele mit 25-Prozent-Stellen sogar auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig sind. Um jeden Tag einen strukturierten Ablauf zu haben, arbeitet Johanna Kappauf nebenher im Werkstättensystem. Auch Fabian Moraw ist noch neben seiner Arbeit an den Kammerspielen tätig.

Fabian Moraw ist Ensemblemitglied der Münchner Kammerspiele. (Foto: Paul Hutchinson)

Denn Struktur ist für den Arbeitsalltag kognitiv Beeinträchtigter besonders wichtig, erklärt Nele Jahnke, Regisseurin an den Kammerspielen. Mit Maja Polk, künstlerischer Produktionsleiterin am Haus und von Autorin Ivna Žic leitet sie das Projekt. Mit den beiden Kammerspiele-Mitgliedern Johanna Kappauf und Fabian Moraw haben die Leiterinnen schon eng zusammen gearbeitet. "Nele, du bist meine zweite Mutter", ruft Fabian während der Sitzung: In der Kammerspiele Produktion "Dr. Berg", die Moraw geschrieben hat, spielen er und Jahnke Sohn und Mutter. "Ohne die Nele wäre ich nicht hier", verteilt er noch Komplimente, die Jahnke nicht hören will. Aber als er später noch sagt, er "liebe sein Leben hier", freut sie sich.

Die neue Redaktion wird Texte von Schreibenden mit und ohne Beeinträchtigung redigieren

Eine Reihe von Autoren wird zum nun gewählten Thema Texte schreiben. Kurze Texte, zwischen drei Zeilen und drei Seiten, so die Vorgabe. Namhafte Autorinnen und Autoren wie Sivan Ben Yishai, Natascha Gangl, Vedrana Klepica, Alex Fassberg, Julia Weber, Wolfram Lotz. Und eben Autorinnen und Autoren von Theatern, die sich auf eine professionalisierte Zusammenarbeit mit kognitiv Beeinträchtigten spezialisieren, wie Remo Beuggert und Simon Stuber vom Züricher Hora Theater, Thomas Möller und Lina Strothmann vom Kollektiv "Meine Damen und Herren" in Hamburg und voraussichtlich zwei Mitglieder des Steiermarker "Griessner Stadls". Die Redaktionsgruppe wird die Texte dann redigieren.

Aber wie genau wird die Suche nach Bewertungsmaßstäben in den Duos aussehen? Im Grunde nicht anders als sonst: Nie wird es um objektive Maßstäbe gehen. Man sucht nach Themen, die Widerhall finden, nach einer Struktur, die überzeugt und nach etwas, das den Leser eben berührt. Und hier liegt eine Stärke der Texte kognitiv Beeinträchtigter darin, dass sie eine unvoreingenommene Sicht auf die Dinge mitbringen. Und oft ohne zu filtern viel von sich in ihre Texte einbringen.

Dennis Seidel mag es nicht, wenn über Trauriges geredet wird. Er ist Schauspieler des Hamburger Kollektivs "Meine Damen und Herren". (Foto: Christian Martin)

Ein emotionaler Zugang zur Welt ist in vielen Texten kognitiv Beeinträchtigter spürbar

Dennis Seidel etwa hat in seinem Text "Verliebt sein" Zeilen geschrieben, die sofort an ihn und Nieke denken lassen. Nieke ist: ein ausgeschnittenes und auf Pappkarton geklebtes Katalog-Modell und Dennis' Freundin, die er mit in der Sitzung und dort ständig in der Hand hat und streichelt. Dennis hat einen schwermütigen Zug, den man sofort spürt, wenn man ihm begegnet. Und mag es deshalb nicht, wenn auch noch über Trauriges geredet wird: "Nieke und ich, zu uns darf man nichts Trauriges sagen", ärgert er sich, als es in der Gruppe kurz um den Krieg geht. Und gleichzeitig ist sein liebendes Wesen in den Texten an vielen Stellen zu finden.

Das Projekt könnte also einerseits anregen zum Nachdenken über die Möglichkeiten, die Arbeitsbedingungen, die kognitiv beeinträchtigte, talentierte Menschen brauchen. Und andererseits könnte ein schönes Ergebnis entstehen: Literatur, die den Leser ein Stück weit zu einer emotionaleren Wahrnehmung der Welt zurückfinden lässt. Die Texte aller Autorinnen und Autoren sollen nämlich zum Abschluss in einem Buch veröffentlicht werden.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: