"Blass sans", sagte Karl Valentin, als ihn der junge Bertolt Brecht fragte, wie sich Soldaten vor einer Schlacht wohl fühlten, "Furcht hams!" Diese Antwort war ebenso schlicht wie zutreffend. Sie gefiel dem jungen Dramatiker natürlich. Er selbst wäre schon einmal fast vom Gymnasium geflogen, weil er 1916 in einem Schulaufsatz geschrieben hatte, der Spruch des römischen Dichters Horaz, es sei "süß und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben", sei nur etwas für Hohlköpfe und reine Zweck-Propaganda.
Bert Brecht inszenierte damals an den Münchner Kammerspielen sein Stück "Leben Eduards des Zweiten von England", das er zusammen mit Lion Feuchtwanger nach einer Tragödie von Christopher Marlowe geschrieben hatte. Und so schickte er die Soldaten des Königs allesamt mit blassweißgeschminkten Gesichtern auf die Bühne. Karl Valentin aber, den er verehrte, war zur Uraufführung am 19. März 1924 eingeladen und faltete seine schlaksige Gestalt in der ersten Reihe zusammen.
Die Anekdote spielte in der ersten großen Glanzzeit der Münchner Kammerspiele, mehr als zehn Jahre nach ihrer Gründung. Otto Falckenberg leitete damals schon das Theater, bereits 1922 durfte Brecht dort "Trommeln in der Nacht" inszenieren, das für ihn der Durchbruch war und ihm den renommierten Kleist-Preis einbrachte. Man kann sich richtig vorstellen, welche Wirkung damals dieses Revolutionsstück in dem schönen Jugendstiltheater von Richard Riemerschmid gehabt haben mag. Heinrich Breloer hat diese legendäre Uraufführung erst unlängst in seinem neuesten, zweiteiligen Fernseh-Dokudrama "Brecht" nachgespielt und die Kulissen dafür ziemlich originalgetreu nachbauen lassen.
Vorstellen kann man sich das also schon. Aber "Trommeln in der Nacht" ist in Wirklichkeit gar nicht in Riemerschmids Theater an der Maximilianstraße uraufgeführt worden. Sondern knapp zweieinhalb Kilometer nordwestlich davon, an der Augustenstraße 89 in der Maxvorstadt. Dort waren die Münchner Kammerspiele am 1. Juni 1912 ganz offiziell ins Leben gerufen worden, und die erste Inszenierung war ein expressionistisches Stationenstück von Leonid Andrejew mit dem recht allumfassenden Titel "Das Leben des Menschen". Es war damals eine Theatersensation und ein Skandal zugleich. Wer sich in München für Theater interessierte, musste es gesehen haben.
Ein starker Start für eine Truppe, die schon vorher in vielerlei Hinsicht von sich reden gemacht hatte, und zwar im selben Haus. Die Augustenstraße 89 war ursprünglich ein großbürgerliches Wohnhaus gewesen. Erdgeschoss und erster Stock waren dann aber zu Kassenhalle, Foyer und Balkon umgebaut worden, Zuschauerraum für 500 Besucher und die Bühne fanden Platz in einem Anbau zum Hof hin. Das neue Theater hieß erst - als Varietétheater - "Universum". 1906 wurde es zum "Münchner Lustspielhaus".
Aus dem "Großen Wurstel" wurde das Lustspielhaus
Als das 1910 schließen musste, kauften die Industrie-Werke München-Nord das Haus und verpachteten es an den Anwalt, Journalist und Theaterunternehmer Eugen Robert. Der hatte in Berlin bereits das Hebbel-Theater gegründet und kurzzeitig betrieben. Er muss ein eigenwilliger Mensch gewesen sein, denn er eröffnete das Münchner Haus unter dem neuen Namen "Zum großen Wurstel (Grand Guignol)" im Januar 1911 wieder. Das war eine Anspielung an den Wurstelprater, dem inoffiziellen Namen für den Wiener Vergnügungspark. Kam bei den Theaterdichtern aber nicht so gut an - wer wollte schon im "Wurstel" aufgeführt werden? Heinrich Mann, der Bruder von Thomas Mann, jedenfalls nicht. Sein Einakter "Varieté" eröffnete die neue Bühne, aber Heinrich Mann hatte sich anfangs sogar gerichtlich dagegen gewehrt.
Schon ein halbes Jahr später hieß der "Große Wurstel" dann schon wieder "Lustspielhaus", und elf weitere Monate danach schlussendlich: "Münchner Kammerspiele". Namensmäßig war das Theater damit aus dem Schneider, sonst aber bei Weitem nicht. Den Fortgang der Geschichte hätte genau genommen auch der spätere Dadaist Hugo Ball schreiben können, der von August 1912 an als Dramaturg an der Augustenstraße arbeitete. Denn schon ein halbes Jahr nach der Spielzeiteröffnung mit dem "Leben des Menschen" war die Intendanz von Eugen Robert im April 1913 wieder zu Ende. Und das trotz eines weiteren Skandalerfolgs, der Uraufführung von Frank Wedekinds Stück "Franziska".
Das Haus kaufte damals die neu gegründete Münchner Theatergesellschaft, sie setzte den neuen Direktor Erich Ziegel ein, der ebenso wie Robert aus der Berliner Theaterszene kam und gerade an den Kammerspielen gastierte. Ziegel legte ein flottes Tempo hin. In einer Spielzeit gab es fast 30 Premieren, alle zwei Wochen eine. Die Hälfte davon inszenierte Ziegel selbst, und er spielte auch noch insgesamt zwölf Rollen. Offenbar hatte er aber auch ein Gespür für neue Talente. Denn schon im Dezember 1914 hatte die erste Inszenierung von Otto Falckenberg ihre Premiere an der Augustenstraße: "Ein deutsches Weihnachtsspiel".
Falckenberg feierte hier seinen Durchbruch mit der Welturaufführung von August Strindbergs "Gespenstersonate". Als Ziegel 1916 im wohl tatsächlich besten Einvernehmen aus der Theaterleitung ausschied, gab es zwar noch einen Übergangsintendanten, aber 1917 wurde Falckenberg dann tatsächlich Direktor der Kammerspiele. Er sollte es bleiben bis 1944 und in den Zwanzigerjahren die Kammerspiele zu einer der wichtigsten deutschsprachigen Bühnen machen. Dem Ensemble gehörten Schauspieler wie Elisabeth Bergner, Elisabeth Flickenschildt, Therese Giehse, Marianne Hoppe, Ernst Ginsberg, O. E. Hasse und Heinz Rühmann, Sibylle Binder, Hans Schweikart und Max Schreck (den man heute noch als Hauptdarsteller in Friedrich Wilhelm Murnaus Vampirfilm Nosferatu kennt) an. Bert Brechts Stücke waren große Erfolge, auch Arnolt Bronnens "Vatermord" wurde hier uraufgeführt, Karl Valentin und Liesl Karlstadt spielten an den Kammerspielen ihre Programme.
Wohn- und Geschäftshaus an der Stelle des ersten Theaters
Dennoch hatte das Theater, das selbst die Jahre des Ersten Weltkriegs überstanden hatte, finanziell schwer zu kämpfen in der Inflationszeit. So groß die künstlerischen Erfolge waren, so schwierig war es, das Haus zu halten. Zeitweise konnten kaum die Stromrechnungen bezahlt werden.
1926 half dann alles nichts mehr, die Münchner Theatergesellschaft ging bankrott. Einer der Teilhaber, der Rechtsanwalt Adolf Kaufmann, verkaufte die Immobilien an die Firma Emelka, die Vorläuferin der Bavaria Film AG. Aber er rettete zugleich das Theater, indem er das Schauspielhaus an der Maximilianstraße pachtete. Die dort ursprünglich beheimatete Truppe fusionierte schließlich mit den Kammerspielen.
Nach der letzten Aufführung von "Das Grabmal des unbekannten Soldaten" von Paul Raynal am 31. August 1926 fiel zum letzten Mal der Vorhang. Wie das Haus danach genutzt wurde, lässt sich nicht mehr eruieren, vermutlich wurde es zum Kino umgebaut. Bei einem Angriff alliierter Bomber wurde es 1944 in Schutt und Asche gelegt. Heute steht an seiner Stelle ein Wohn- und Geschäftshaus, der Hinterhof, in dem sich der Bühnenraum befand, ist eine Grünfläche.