Kalkbrenner in München:Techno für Staatstragende

Seine Single "Sky and Sand" verdrängte sogar "Last Christmas" vom ewigen Spitzenreiterplatz in den deutschen Charts. Und das, obwohl Techno seine beste Zeit hinter sich hat. In München versammelte Paul Kalkbrenner 20.000 Fans - trotz strömenden Regens. Was ist dran an dem Mann? Ein Konzertbesuch.

Ruth Schneeberger

Einiges sprach dagegen, dass das Kalkbrenner-Konzert auf dem Münchner Königsplatz am Sonntagabend ein Erfolg werden könnte: Es schüttete wie aus Eimern. Ein Wolkenbruch jagte den nächsten. Am Ende wurde es zusätzlich zugig und kalt. Möglichkeiten zum Unterstellen? Gibt es hier nicht.

Und doch feierten rund 20.000 Fans an diesem Abend eine rund sechsstündige Party im Freien, friedlich und erstaunlich fröhlich. Sieht man einmal davon ab, dass mancher Technojünger traditionell schon mal ganz gerne zu stimmungsaufhellenden Substanzen greift, muss trotzdem verblüffen, wie selig die Besucher an diesem Abend in der großen Masse waren.

Kein schlechtes Wort über das schlechte Wetter war zu vernehmen. Die Musikfans packten ihre Schirme aus, sich selbst in Regenponchos - und los ging's mit dem Tanzen, Wippen, Wackeln und Springen.

Einige ließ der anhaltende Regen völlig kalt: Als ob sie nicht im Freien bei kühlen Temperaturen unter Stürmen, sondern in einem Kellerclub im Warmen zwischen schwitzenden Körpern stünden, entledigten sie sich ihrer Alltagskleidung und trugen viel nackte Haut zur Schau - München und das Umland werden in den kommenden Tagen wohl mit einigen Krankmeldungen zu rechnen haben.

Normalerweise sorgt elektronische Musik mit ihren peitschenden Klängen schon dafür, dass sich die Körper in Rage tanzen und die Stimmung sich aufheizt. Bewegung ohne Unterlass führt dazu, dass weder Kälte noch Müdigkeit noch sonstige Ausfallerscheinungen eine Chance haben.

Sanft, sphärisch, minimal

Aber die Musik von Paul Kalkbrenner ist anders. Viel weniger ruhelos, sanfter, sphärisch. Techno light. Umso erstaunlicher, dass trotzdem so viele Fans kamen und auch nicht müde wurden, entweder auszuharren, bis ganz am Ende doch noch ihr Lieblingslied ("Aaron") gespielt wurde - oder fast die ganze Zeit begeistert mithüpften.

Was ist dran an dem Mann, der mittlerweile wie kein Zweiter in der Szene die Massen mobilisiert?

Böse Zungen behaupten, was Kalkbrenner mache, sei kein echter Techno und seine Fans nur solche, die eigentlich keine elektronische Musik mögen, aber trotzdem ein bisschen cool und mit dabei sein wollen. Er selbst drückt es anders aus: "Ich bin froh, dass die meisten nicht so sind wie icke. Meine Musik ist nicht für Spinner und Gesellschaftsklempner gemacht. Zu mir kommen die, die eher kurz konzertmäßig raven, die schon mal was schnuppern, aber um drei nach Hause gehen, der staatstragende Teil der Bevölkerung, der, der dafür sorgt, dass alles funktioniert."

Damit fährt der DJ aus Berlin-Friedrichshain, der schon seit 20 Jahren elektronische Musik macht und seit zehn Jahren Platten veröffentlicht, in jüngster Zeit erstaunlich gut. Seit dem Techno-Boom in den neunziger Jahren gibt es kaum noch einzelne DJs, die derart anhaltend und so erfolgreich den Massengeschmack erreichen, dass sie ihre Musik gar in den Charts platzieren könnten. Kalkbrenner schon.

Emotion ist das Zauberwort

Durch den Film "Berlin Calling" (2008), in dem er einen DJ spielt, und den dazugehörigen Soundtrack ist er auch solchen Leuten ein Begriff geworden, die sich für die diffizilen Verästelungen der Elektro-Szene nicht interessieren, die immer neuen und ständig wechselnden Ausrichtungen der Techno-Szene nicht begleiten, sondern einfach nur schöne Musik hören wollen.

Paul Kalkbrenner auf dem Koenigsplatz

Selig grinsend: DJ Paul Kalkbrenner bespielte am Sonntagabend nach Veranstalterangaben rund 20.000 Fans in München.

(Foto: dapd)

Kalkbrenner macht nicht mal in erster Linie Musik zum Tanzen. Seine monotonen Minimal-Grooves, die mit viel Melodie und teilweise sanftem Gesang unterlegt werden, sind weder peitschend noch gehen sie sofort ins Blut. Kalkbrenner hört man eher im Alltag, nebenbei.

So auch seine Single Sky and Sand, die vom Energiekonzern RWE für seine "intelligente Energie" in einem Werbespot genutzt wird und mit der der 1977 geborene Kalkbrenner im Mai 2012 einen erstaunlichen Rekord aufstellte: Sie hielt sich 108 Wochen in den deutschen Top 100 und stürzte damit sogar den ewigen Spitzenreiter Last Christmas von Wham! vom Thron. Eine Chartplatzierung von mehr als 107 Wochen ist seit 1977 in Deutschland keiner anderen Single gelungen.

Es reicht also nicht, Kalkbrenners Musik als "After-Hour-Techno" für die arbeitende Bevölkerung zu bezeichnen, die mit der Technobewegung erwachsen geworden ist, um sich jetzt sanft durch den Alltag wiegen zu lassen. 20.000 Fans, die stundenlang in Sturm und Regen ausharren, kaum Securityaufgebot im sonst so gerne polizeigewaltig auftretenden München und eine derart glückselige Stimmung wie an diesem Sonntagabend zwischen den beeindruckenden klassizistischen Gebäuden auf dem Königsplatz sprechen eine andere Sprache:

Ikarus, wie Kalkbrenner in "Berlin Calling" genannt wird, thront an diesem Abend auf den Propyläen, einem Gebäude, das einem griechischen Tempel nachempfunden wurde, beide Türme werden von blitzendem Licht erhellt. Das hat trotzdem nichts Majestätisches oder Autoritäres an sich, wie der DJ oberhalb seiner Fans residiert.

Leicht und locker, geradezu liebevoll dreht er an seinen Rädchen, die den Sound bedeuten. Zwei große Leinwände übertragen das Gesicht des DJs, der zwischendurch die T-Shirts switcht und auch schon mal ein FC-Bayern-Shirt einwechselt. Vor ihm hat seine Freundin hier aufgelegt, DJane Simina Grigoriu, mit ganz ähnlichen Klängen, beim bisher größten Konzert in Kalkbrenners Karriere.

Für die einen zu hart, für die anderen zu weich - und für viele genau richtig

Und dann, mit der Dämmerung, dämmert es einem, warum Kalkbrenners Musik mehr ist als der Soundtrack, um in Ibiza am Strand zu liegen und den Sonnenaufgang zu betrachten: Emotion ist das Zauberwort. Damit mobilisiert er die Massen.

Steht Techno üblicherweise für elektronische Musik, eher ohne Seele, eher für den Körper gemacht, sind Kalkbrenners Klänge inzwischen genau das Gegenteil: Seine minimalistischen Beats werden mit so viel Melodie aufgeladen, dass sie die Seele streicheln. Er macht es den Leuten gemütlich. Wohlig fühlt sich das an.

Nicht so wohl fühlten sich indes 235 Anrufer, die sich bei der Polizei über Lärmbelästigung beschwerten. Bis in weit entfernte Stadtteile Münchens drangen die Klänge an diesem Abend zum Teil.

Techno-Fans hingegen, die nach immer stärkeren Beats dürsten, um ihre Tanzlust zu befriedigen, werden sich von solcherlei Musik weniger beeindrucken lassen. Langweilig würden sie sie nennen. Aber die große Masse, die nur ein bisschen wippen und sich dabei einfach nur gut fühlen will, und sei es bei strömendem Regen und in bitterer Kälte, die hat Kalkbrenner an diesem Abend erreicht.

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